Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

A. Frühere Rechtstheorien. III. Die materialistische Geschichtsauffassung. g 
gerade aus internationalen Mischungen her. Je mehr sich namentlich das 
soziale Leben der modernen Kulturvölker in übereinstimmender Weise ge- 
staltet, um so größere Bedeutung haben die durch die Nationen gleichmäßig 
hindurchlaufenden Klassen erhalten, in denen verwandte Charakterzüge, An- 
sichten und Bestrebungen in internationaler Übereinstimmung auftreten. Und 
darüber hinaus gibt es einen weiteren Schritt der Gedanken. Gewiß fühlt sich 
ein jeder als einer, der zu einem bestimmten Volk und Staat oder auch einer 
engeren Gemeinschaft gehört, aber ebensowohl empfindet er auch, daßer Mensch 
ist, über nationale Grenzen hinaus, und er kann diese Idee der Menschheit für 
sich nicht wegdenken, ohne seinem Dasein die höchste Würde zu nehmen. 
Soweit sich nun aber der Einzelne gerade als Mitglied eines besonderen 
Menschenkreises fühlt und sich bewußt wird, ein Gemeinschaftsleben mit- 
zuleben, so erschöpft sich diese Richtung seines Bewußtseins — für die grund- 
legend systematische Frage — in dem Gedanken dergemeinsamen Zweck- 
verfolgung. Das soziale Leben ist ein Zusammenwirken, um den Kampf um 
das Dasein gemeinsam zu führen. Ein gemeinschaftlicher Zweck ist 
jedoch etwas qualitativ anderes, als zwei einzelne Zwecke. So erhebt der 
Gemeinschaftsgedanke das Individuum zu einer eigenartigen Richtung 
des Bewußtseins, zu der Hingabe an besonders geartetes Wollen. Es sind also 
individuale und soziale Betrachtung zwei qualitativ verschiedene Rich- 
tungen des Bewußtseins, und es bedeutet die Gesetzmäßigkeit, die im 
Gedanken der Gemeinschaft liegt, die oberste formale Bedingung für 
die einheitliche Art des sozialen Wollens, dagegen nicht eine empirische 
Größe, die über den sozial verbundenen Menschen stände. — Die nationalen 
Eigentümlichkeiten aber, von denen wir vorhin ausgingen, gehören über- 
haupt nicht zu den formalen Bedingungen, unter denen der Stoff des ge- 
schichtlichen Rechtslebens einheitlich zu fassen möglich wäre: sie zählen viel- 
mehr zu diesem Stoff selber. Sie bilden ein nicht verächtliches Material, das 
ein jeder Gesetzgeber wohl berücksichtigen soll. Denn er hat ja die rechte Art 
des Zusammenwirkens zu finden und anzuordnen und muß darum die historisch 
bedingten Qualitäten der einer Regel zu Unterstellenden in Betracht ziehen, 
um die letzteren dann in richtiger Art bestimmen zu können. 
III. Die materialistische Geschichtsauffassung. Sie bedeutet 
eine Lehre und ein System von Gedanken, die erst in den letzten Zeiten genauer 
und tiefer betrachtet worden sind; sie selbst ist etwa seit zwei Menschen- 
altern vorhanden. Noch immer kann man aber nicht sagen, daß die Bekannt- 
schaft mit der materialistischen Geschichtsauffassung zu dem regelmäßigen Be- 
sitztum der Gebildeten gehöre. Sie ist verhältnismäßig wenig bekannt und 
auch in dem akademischen Vortrage der Disziplinen, die sie berührt, nur ver- 
einzelt berücksichtigt. Und doch ist die materialistische Geschichtsauffassung 
das Fundament der bedeutsamsten Bewegung der Gegenwart geworden, — 
des Sozialismus, dessen rechtes Verständnis von der nun zu berichtenden Sozial- 
theorie abhängt.
	        
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