270 FRANZ voN LiszT: Strafrecht und Strafprozeßrecht.
kann mich umsomehr darauf beschränken, auf einige dieser einzelnen Punkte
aufmerksam zu machen, als der von den verbündeten Regierungen 1909 ein-
gebrachte Entwurf einer Novelle zum Gerichtsverfassungsgesetz und einer
Strafprozeßordnung unrühmlich gescheitert ist, die Einbringung eines neuen
Entwurfs aber noch in weiter Ferne steht.
Die Zerfahrenheit unserer Gesetzgebung bei Zusammensetzung der erst-
instanzlichen Gerichte erheischt dringend baldige Abhilfe. Es ist auf die Dauer
nicht möglich, Schöffengerichte, rechtsgelehrte Strafkammern und Schwur-
gerichte nebeneinander bestehen zu lassen. Aber über die Richtung der Reform
gehen die Meinungen heute noch weit auseinander, und es ist kaum abzusehen,
in welcher Richtung die Entwickelung erfolgen wird.
Daß die Zuziehung von „Laien“ nicht mehr rückgängig gemacht werden
kann, unterliegt keinem Zweifel. Damit ist, wenn die Zusammensetzung des
Gerichtskörper nach einheitlichen Grundsätzen erfolgen soll, den bloß mit
beamteten Richtern besetzten Strafkammern das Todesurteil gesprochen. Es
wird sich bloß darum handeln können, ob die Schöffengerichtsverfassung für
Strafsachen aller Ordnungen (mit Ausnahme selbstverständlich des Reichs-
gerichts) durchgeführt werden soll. Dafür spricht, daß im Schwurgericht das
Laienelement nicht zu seiner vollen Geltung kommt, da der Geschworene nur
über die Schuldfrage zu urteilen hat und auch hier jedes einheitliche Zusammen-
wirken von Richtern und Geschworenen ausgeschlossen ist, während der Schöffe
mit dem beamteten Richter an allen prozessualen Beschlüssen (über Beweis-
aufnahme usw.) sowie an der Strafzumessung mit gleichem Stimmrecht beteiligt
ist. Ob aber diese juristisch technischen Gründe schwer genug ins Gewicht fallen,
um der auf politischen Erwägungen beruhenden Volkstümlichkeit der Schwur-
gerichte gegenüber den Ausschlag zu geben, erscheint als äußerst zweifelhaft.
Eine tiefgehende populäre Strömung verlangt die Zulassung der Berufung
gegen alle strafgerichtlichen Urteile der ersten Instanz. Auch hier aber stellen
sich der Verwirklichung dieses Wunsches technische Bedenken in den Weg.
Die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme wird schon wegen des größeren
Sprengels der Berufungsgerichte hier viel schwerer durchzuführen sein als bei
den Gerichten erster Instanz; ein Berufungsurteil aber, das sich ganz oder zum
Teil auf den Akteninhalt und nicht auf die Beweismittel selbst gründet, hat
nicht mehr sondern weniger Wert als das Urteil der ersten Instanz. Dazu
kommt, daß die Gestaltung des Rechtsmittelverfahrens unlösbar zusammen-
hängt mit der erstinstanzlichen Gerichtsverfassung. Wirken Laien bei allen
erstinstanzlichen Urteilen mit, so kann man die Berufung nicht gut an die
bloß mit Beamten besetzten Obergerichte leiten.
Derselben Unsicherheit begegnen wir, wenn wir die Vorschläge nach einer
Umgestaltung des Vorverfahrens mit Einschluß der Versetzung in den Anklage-
zustand ins Auge fassen. Auch hier herrscht in allen unbefangenen Kreisen die
Überzeugung, daß die heutige Gestaltung der Voruntersuchung ebenso unhalt-
bar ist wie die Einrichtung des Eröffnungsverfahrens. Die Voruntersuchung
versagt dem Angeschuldigten und seinem Verteidiger die Einwirkung auf die