I. Kirchenverfassung. 279
weltlichen Ursprungs beschränkt? Hat nicht auch die göttliche Offenbarung,
auf welcher die Stiftung der Kirche beruht, einen Anteil an der kirchlichen
Rechtsbildung? Der Protestantismus verneint, der Katholizismus bejaht
die Frage. Ihm ist die Heilige Schrift Rechtsquelle. Wie sie dies schon
für die vorreformatorische Kirche durch unmittelbare Reproduktion alttesta-
mentlichen Rechtsstoffes oder mittelbar durch vorbildliche Aneignung mosaischer
Rechtsideen geworden war, so ist auch das Neue Testament für die katholische
Kirche der Gegenwart grundlegende Rechtsquelle geblieben. Alle wesentlichen
Bestandteile ihrer Gemeinschaftsordnung sind darin festgelegt. Auch im Ge-
biete des Rechtes habe Gott sich ordnend offenbart. Viele Aussprüche Christi
oder der Apostel enthielten einen unmittelbar gesetzgeberischen Willen (Matth.
16 ı8, 18 ı8, Ephes. 2 20—22, 1. Kor. 12 ı2ff. u. a.). So besitzt die katholische
Kirche ein wahrhaftiges Jus divinum, um seines Ursprunges willen unver-
änderlich, also auch der Disposition irgendeiner außerhalb der Kirche stehen-
den menschlichen Gewalt entzogen. Diese ganze Gedankenreihe hat der Pro-
testantismus bewußt und grundsätzlich abgelehnt. Ihm ist alle Rechts-
erzeugung, auch in der Kirche, freie Tätigkeit des menschlichen Geistes, Produkt
geschichtlicher Entwickelung.
Diese unterschiedliche Stellung zur Offenbarung als Rechtsquelle ist,
wie schon einmal gestreift, der springende Punkt in der Differenzierung von
katholischem und evangelischem Kirchenrecht geworden. Das Jus divinum
hat den spezifisch rechtsgesetzlichen Charakter des katholischen Kirchen-
wesens hervorgebracht. Das Jus divinum hat den Bau der katholischen Kirchen-
verfassung von der Grundlage des Klerikerstandes bis zur Spitze des Primats
aufgerichtet. Das Jus divinum hat die Machtfülle der Kirchengewalt und die
absolute Gehorsamspflicht der Kirchenglieder begründet. Das Jus divinum
hat die Norm für das Verhältnis der katholischen Kirche zum Staat geliefert.
Das Jus divinum endlich schließt im letzten Grunde alles in sich ein, was im
Gebiete des Glaubens und des Rechtes die Trennung zwischen Katholizismus
und Protestantismus bewirkte und fortdauernd bewirkt.
Damit ist auch der durchgreifend leitende und führende Gedanke für die
weitere Darstellung in diesem Werke gegeben. Soll das Kirchenrecht als geistes-
wissenschaftliches Kulturgebiet der Gegenwart zum Verständnis kommen,
dann ist erforderlich und ausreichend, jeweils diejenigen Gesichtspunkte heraus-
zuarbeiten, welche im Gebiete der kirchlichen Verfassung und Regierung, des
Rechtslebens der Kirchenglieder sowie der Beziehungen der Kirchen unter-
einander und zum Staate grundsätzlich das Verhältnis von Katholi-
zismus und Protestantismus, sei es verbindend, sei es trennend, be-
dingen oder bestimmen.
I. Kirchenverfassung. ı. Die Verfassung der katholischen Kirche
wird grundlegend durch die Scheidung aller Kirchenglieder in den Stand des
Klerus und der Laien bestimmt. Die verfassungsrechtliche Bedeutung dieser
sozialen Gliederung liegt darin, daß alle Kirchengewalt ausschließlich im
Grunddiflerenz
kath. und evang.
Kirchenrechts.
Kath. Kirchen-
verfassung.
Grundlage.