290 WILHELM KAHL: Kirchenrecht.
Richtung liegt die gesetzgeberische Reform der Zukunft. Nur so werden Tat-
bestände und Mittel der Kirchenzucht richtig abzumessen, und insbesondere
der Ausschluß vom Sakrament und die noch immer grundirrtümlich unter den
Gesichtspunkt strafender Kirchenzucht gezogene Versagung des kirchlichen
Begräbnisses zutreffend zu handhaben sein. Zugleich ist erwiesen, daß die-
jenigen auf unseligem und verhängnisvollem Irrwege sind, welche in straffer
Wiederbelebung einer Kirchenzucht nach Art kanonischer Strafgewalt ein
Heilmittel für das kranke kirchliche Gemeindeleben erblicken wollen. Jeder
Versuch einer solchen Rückbildung ist energisch abzuweisen.
Evangelische Daß im Verhältnis der Kirche zu ihren Beamten, daher auch gegenüber
Disziplin. . . . . . .
den Geistlichen eine eigentliche Disziplinarstrafgewalt nicht zu entbehren
sei, wird auch nach evangelischem Kirchenrecht allgemein vorausgesetzt und
anerkannt. Überall bestehen daher landeskirchliche Disziplinargesetze über die
Dienstvergehen der Kirchenbeamten aus Kirchenregiment und Pfarrerstand
(z. B. Preuß. K.G. v. 16. VII. 86). Die neueren dieser Ordnungen schließen
sich in den Grundgedanken eng an die Disziplinargesetze für Staatsbeamte an.
Die Verletzung der besonderen Amts- und Standespflichten bildet den Tat-
bestand des kirchlichen Disziplinarvergehens. Als Disziplinarmittel finden sich
unterschieden Ordnungsstrafen und Entfernung aus dem Kirchenamte. Jene
sind Warnung, Verweis und gesetzlich begrenzte Geldstrafe. Diese kann be-
stehen in Versetzung, Amtsenthebung mit Verbleib der Anstellungsfähigkeit
und der Rechte des geistlichen Standes, endlich Dienstentlassung mit Verlust
aller Ansprüche und Rechte. Bloße Ordnungsstrafen können von den vor-
gesetzten Kirchenbehörden verhängt werden. Der Entfernung aus dem Kirchen-
amte muß ein förmliches Disziplinarverfahren vorhergehen. Zuständig dafür
sind in der Regel die Konsistorien mit Vorbehalt von Rechtsmitteln an obere
Kirchenregimentsbehörden. Insoweit ist auch in der evangelischen Kirche das
Bedürfnis nach Aufrechterhaltung der Kirchenordnung durch Strafzwang not-
wendig und im ganzen befriedigend gedeckt. Immerhin haben Erfahrungen der
jüngsten Zeit eine öffentliche Diskussion darüber angeregt, ob nicht neue
Disziplinargerichtshöfe unter Beteiligung von Vertretern des Pfarrerstandes zu
schaffen und ob nicht die Disziplinarstrafmittel selbst in einer den Bedürf-
nissen der Kirchendisziplin näher angepaßten Weise zu reformieren seien.
Irrlehre. Das eigentlich Reformbedürftige lag aber hier an einem anderen Punkt,
an einem Zentralnerv allerdings des evangelisch kirchenrechtlichen Systems.
Es war die Behandlung der Irrlehre als Disziplinarstraftatbestand. Nicht
daran war Anstoß zu nehmen, daß an und für sich eine Grenze der Lehr- und
Gewissensfreiheit auch hier gezogen wird. Das ist vielmehr selbstverständlich
und notwendig. Der rechtlich organisierten Kirche gegenüber muß die Stellung
des Geistlichen im Glaubensgebiete eine von derjenigen des Laien grundsätzlich
verschiedene sein. Der Pfarrer hat hierin eine persönliche Verantwortlichkeit,
welche der Laie nicht zu tragen hat. Er ist Organ der Kirche. Er steht in einem
besonderen Dienstverhältnis und konkreten Pflichtenkreis. Dieser Pflichten-
kreis ist durch Zweck und Inhalt des geistlichen Amtes objektiv bestimmt.