Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

II. Kirchenregierung. 291 
Er ist also unabhängig von der Selbstbestimmung und Willkür des Amts- 
inhabers. Der redliche Sinn auch der weitestgehenden ordinatorischen Ver- 
pflichtung schließt eine schrankenlose Geltendmachung des individuellen 
Glaubens und Meinens gegenüber Lehre und Bekenntnis der Kirche aus. Der 
Schluß ist unvermeidlich, daß auch die evangelische Kirche offenkundige Irr- 
lehrer im geistlichen Amte nicht dulden kann. Die Zumutung des Gegenteils 
wäre die Forderung der Selbstauflösung der Kirche. 
Ein anderes aber war die Frage nach den Mitteln der Lösung eines 
solchen Konflikts. Selbstverzicht auf das Amt wäre gewiß die einfachste und 
die für manche Fälle redliche Lösung. Aber nicht immer ist sie zu verlangen. 
Der Streit kann eben darum sich drehen, ob nicht die abweichende Lehre die 
wahre Lehre der Kirche sei, oder ob sie nicht wenigstens innerhalb eines Frei- 
gebietes liege, welches noch wohl vereinbarlich ist mit redlicher Erfüllung der 
Amtspflicht. Das Recht muß also für alle Regelfälle ein Mittel der unfrei- 
willigen Lösung des Konflikts vorsehen. Das mit einer einzigen Ausnahme 
noch jetzt in allen deutschen evangelischen Landeskirchen bestehende Recht 
behandelt Irrlehre als ‚„Disziplinarvergehen‘‘. Mit dieser Ordnung bleibt der 
Protestantismus noch immer im kanonischen Recht verstrickt. Er hat sich 
hier vom System der Glaubensverbrechen noch nicht frei gemacht. Nach 
evangelischer Grundauffassung kann Lehrabweichung kein strafbarer 
Tatbestandsein. Glaube ist ein in innerlich freier Stellung zu Gott gewonnenes 
Verhältnis. Also kann Unglaube oder Irrglaube nicht ein vor menschlichen 
Richtern nach Art begangener strafbarer Handlungen zu verantwortendes Ver- 
halten sein. Irrlehre keine Disziplinarsache. Disziplinarvergehen ist äußerlich 
mießbare Verletzung der Dienstpflicht: Amtsungehorsam, Nachlässigkeit, Un- 
treue, Vergehen im Amt durch Unterschlagung, Unsittlichkeit usw. Es ist 
unerträglich, daß nach gleichem Verfahren wie ein ungetreuer, ehebrecherischer 
oder trunkener Pfarrer derjenige Geistliche behandelt werden soll, der im 
ehrlichen Ringen um die Wahrheit von der von der Kirche bekenntnismäßig 
formulierten Wahrheit abgekommen ist. Es fehlt die Grundvoraussetzung 
aller Strafverantwortlichkeit: die Schuld, das Unrecht im menschlichen 
Sinne. 
Auf dem Grunde dieser Erwägungen entstand eine Reformbewegung, die 
sich zum Ziele setzte, zwar der Kirche einen auch gegen Irrlehre unentbehr- 
lichen Rechtsschutz zu geben, diesen aber unter Lösung von der Voraussetzung 
der Schuld und den Wirkungen der Strafe in einer dem geistlichen Wesen der 
evangelischen Kirche entsprechenden Weise zu gestalten. Ihren erstmaligen 
positivrechtlichen Ausdruck haben diese Bestrebungen in dem für die evan- 
gelische Landeskirche der älteren Preußischen Provinzen ergangenen 
Kirchengesetz vom 16. März 1910 betr. ‚das Verfahren bei Beanstandung der 
Lehre von Geistlichen‘ gefunden. Wegen Irrlehre eines Geistlichen findet 
fortan ein disziplinares Einschreiten nicht, vielmehr an seiner Stelle ein ob- 
jektives Feststellungsverfahren statt. Für diesen Zweck ist ein aus 13 Mitgliedern 
bestehendes, durch Beamten des Kirchenregiments, Abgeordnete der Synoden 
19* 
Reform 
in Preußen.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.