292 WILHELM KAaHL: Kirchenrecht.
und Vertreter der theologischen Wissenschaft gebildetes ‚„Spruchkollegium für
kirchliche Lehrangelegenheiten‘' eingesetzt. Nach Abschluß des Vorbereitungs-
verfahrens findet mündliche Verhandlung in Gegenwart des Geistlichen und
seiner Beistände und der sonst zugelassenen Personen statt. Beistände können
in einem Amte der Landeskirche stehende Geistliche und Lehrer der evan-
gelischen Theologie oder evangelische Lehrer des Kirchenrechts an einer
deutschen Universität sein. Zwei beauftragten Mitgliedern des Gemeinde-
kirchenrats der beteiligten Gemeinde muß stets der Zutritt gestattet werden.
Ist die Angelegenheit zur Schlußentscheidung reif, so hat das Spruchkollegium
nach seiner freien, aus dem ganzen Inbegriff der Verhandlungen und Beweise
geschöpften Überzeugung in einem Spruche festzustellen oder für nicht fest-
gestellt zu erklären, daß eine weitere Wirksamkeit des Geistlichen innerhalb
der Landeskirche mit der Stellung, die er in seiner Lehre zum Bekenntnisse
der Kirche einnimmt, unvereinbar ist. Zur Beschlußfähigkeit des Spruch-
kollegiums ist die Anwesenheit sämtlicher Mitglieder erforderlich. Eine Fest-
stellung in dem eben genannten Sinn kann nur mit einer Mehrheit von min-
destens *?/, der Mitglieder getroffen werden. Der eine Feststellung der Unver-
einbarkeit treffende Spruch bewirkt ‚‚kraft dieses Gesetzes‘ die Erledigung des
von dem Geistlichen bekleideten Kirchenamtes und den Wegfall der Rechte
des geistlichen Standes, d. h. Erledigung des bisher innegehabten Amts, Er-
löschen der Befugnis zur Vornahme kirchlicher Amtshandlungen und Verlust
der kirchlichen Anstellungsfähigkeit, nicht auch nach richtiger Auslegung des
Gesetzes des Rechts, noch ferner den Titel ‚Pfarrer a. D.‘‘ zu führen. Dem
Evangelischen Oberkirchenrat bleibt die Wiederbeilegung der infolge einer
Feststellung verloren gegangenen Rechte des geistlichen Standes vorbehalten.
Dem kraft Feststellung ausgeschiedenen Geistlichen wird aus dem Pensions-
fonds der evangelischen Landeskirche ein Jahrgeld in dem Betrage gewährt,
wie er ihm im Falle einer zu diesem Zeitpunkte stattfindenden Versetzung in
den Ruhestand als gesetzliches Ruhegehalt zustehen würde. Die Absicht des
Gesetzes war, ein Verfahren zu schaffen, in dem es keinen Angeklagten gibt,
in dem kein Schuldig gesprochen wird, dessen Entscheidung keinen sittlichen
Makel aufdrückt, das Gewissensrecht nicht verletzt, äußere Nachteile auf das
geringste beschränkt und soweit solche unvermeidlich sind, sie nicht durch
richterlichen Spruch, sondern kraft objektiven Rechtssatzes eintreten läßt.
Ob der damit beschrittene, seit Jahren und auch in der ı. Auflage dieser Dar-
stellung von mir empfohlene Weg ein richtiger war, darüber wird die Geschichte
urteilen. Ein unbestrittener war er keinesfalls. Zwar wurde er innerhalb der
Generalsynode einstimmig von den Vertretern aller kirchlichen Parteien für
einen richtigen gehalten. Aber außerhalb waren die Meinungen sehr geteilt.
Adolf Harnack hat ihm grundsätzlich zugestimmt. Rudolf Sohm hat ihn auf
das lebhafteste bekämpft. Und er hatte eine große und illustre Gefolgschaft
hinter sich, namentlich aus dem Westen der Landeskirche. Im Kernpunkt der
Gegengründe stand der Satz, daß das Urteil über die Lehre des Geistlichen
ausschließliche Funktion der Einzelgemeinde sei. Dieser Streit ist hier nicht