II. Kirchenregierung. 203
auszutragen; er ist ein Ausschnitt aus dem großen Problem des Landeskirchen-
tums überhaupt. Soviel aber ist wahrheitsgemäß einzuräumen, daß die erst-
malige Anwendung des Gesetzes im Jahre ıgII hinsichtlich der Struktur des
Verfahrens, der Auslegung der Entscheidungsnorm und der Ausführung des
Spruchs Unvollkommenheiten aufgedeckt hat, welche erkennen lassen, daß
auf den ersten Wurf es noch nicht gelungen ist, den Gedanken in eine den
geistlichen Zielen voll entsprechende rechtliche Form zu bringen. Insofern
bedeutet also die Preußische Reform zwar einen beachtenswerten Versuch,
aber noch nicht die Lösung selbst.
Noch unendlich schwieriger und wichtiger freilich als die sachgemäße
Form des Verfahrens ist die Ermittelung des materiellen Prinzips der
Entscheidung selbst. Ich kann auch hier nur einen oft vertretenen Stand-
punkt wiederholen. Die reformatorischen Bekenntnisschriften als Ausdruck
des wesentlichen Schriftverständnisses der evangelischen Kirche sind mensch-
lichen Ursprungs. Sie unterliegen hiernach unvermeidlich der Möglichkeit
einer geschichtlichen, d. h. mit Erweiterung und Vertiefung der theologischen
Erkenntnis fortschreitenden Entwickelung. Der evangelische Begriff von
Lehre und Irrlehre ist nicht kanonisch stereotypiert. Es bleibt daher ein weites
Freigebiet der Auslegung. Der Katholizismus kennt dieses Gebiet nicht. Lehre
und Irrlehre sind ins Kleine durch eine unfehlbare Gewalt in rechtlich zwin-
gender Weise festgestellt und immerwährend festzustellen. Der Tatbestand
der Häresie ist in jedem Augenblick klar. In der evangelischen Kirche nicht.
Die Bekenntnisse haben nicht den Inhalt und nicht die rechtsverbindliche
Kraft von Gesetzen. Der Pfarrer kann nicht verbal und formal juristisch
daran zu binden sein. Das Geistliche will geistlich gerichtet werden. Die viel
stärkere ethisch-religiöse Gebundenheit des evangelischen Pfarrers besteht
darin, daß er das in Freiheit ihm anvertraute Bekenntnis zum Aus- und Aufbau
der Gemeinde verwaltet, nicht zu ihrer Zerstörung. Das ist der evangelische
Maßstab. Ob der Geistliche bekenntnismäßig lehre, kann sich nicht nach der
Summe der von ihm in einer bestimmten Auffassung für wahr gehaltenen und
vorgetragenen Einzelsätze, sondern allein danach bemessen, mit welcher Frucht
das von ihm Gelehrte geeignet sei, dem Aufbau der evangelischen Gemeinde
zu dienen. Es ist nicht geeignet, der Gemeinde zu dienen, wenn an Stelle der
Position die Negation gereicht wird, an Stelle der Erbauung die Kritik, an
Stelle der schlichten Grundwahrheiten des Evangeliums das kompliziert Speku-
lative, an Stelle des religiösen Gehaltes die theologische Formulierung, an Stelle
der Friedensbotschaft der wissenschaftliche Streit, an Stelle der Offenbarung
die Vernunft, an Stelle des Wortes Gottes die Autorität des Ich. Der Einwand
kann nicht gelten, diese Norm sei zu weit, zu unbestimmt. Sie ist eng und be-
stimmt genug, um aus dem Gesamtbilde an jedem Tatbestand des Einzelfalles
festzustellen, ob ein aufbauender Dienst an der Gemeinde im Segen weiter
möglich ist oder nicht. Darauf allein kommt es zuletzt an. Wer weitere
Garantien, rechtliche Kriterien der Orthodoxie, Buchstabenglauben und ähn-
liches verlangt, betritt einen Weg, welcher unvermeidlich im kanonischen Recht
Materielle
Grenze der
Freiheit.