Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

12 RUDOLF STAMMLER: Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft. 
rittern gegenüber den Unternehmern und Arbeitern der kapitalistischen Pro- 
duktionsweise; und der Stand von Kunst und Wissenschaft sei von dem der 
jeweiligen wirtschaftlichen Verhältnisse abhängig. Im besonderen kam das 
kommunistische Manifest (1847) aus dieser Auffassung her zu dem Satze, daß 
alle geschriebene Geschichte die Erscheinung der Klassenkämpfe aufweise, 
welche Ausfluß und Widerschein der seitherigen ökonomischen Phänomene seien. 
Marx und Eagels. Die materialistische Geschichtsauffassung geht auf Karl Marx (t} 1883) 
Moderner 
Sozialismus, 
zurück und ist besonders eindringlich und erfolgreich von seinem Freunde 
Friedrich Engels (t 1895) vertreten und verbreitet worden. Zwar war auch vor 
ihnen schon darauf hingewiesen worden, daß die Art der sozialen Wirtschaft 
von Einfluß auf die Ausgestaltung der Rechtsordnungen und die Entwicke- 
lung der Kultur überhaupt sein müsse. Das neue, das sie boten, lag darin, daß 
nun radikal die Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens auf die genetische 
Abhängigkeit von der Sozialökonomie abgestellt wurde. Damit wurde die ge- 
schilderte Betrachtungsweise als die oberste formale Methode promulgiert 
unter der überhaupt erst eine einheitliche Anschauung der sozialen Geschichte 
möglich sei. Wenn man sie beobachte, so sei damit ebensowohl ein wissen- 
schaftlich erklärender Rückblick, wie auch ein begründetes Vorausschauen in 
das Kommende möglich. Man habe nur die ‚Tendenzen‘ der sozialwirtschaft- 
lichen Entwicklung der Gegenwart genau zu beobachten und man könne mit 
verhältnismäßiger Gewißheit sagen, wohin der wirtschaftliche Prozeß uns un- 
vermeidlich führen werde. 
Die wichtigste Einzelanwendung dieser Geschichtsphilosophie liegt in dem 
modernen Sozialismus. Dieser will nicht etwa einen Idealstaat konstruieren 
und als Utopie in das Leben setzen, sondern faßt seine Aufgabe als wissen- 
schaftliche Beobachtung der sozialen Wirtschaft der Gegenwart und als vor- 
bereitende Tätigkeit für ein, von den demnächstigen ökonomischen Phäno- 
menen zwingend vorgeschriebenes Eingreifen auf. Seine Deduktion faßt sich 
dahin zusammen: I. Das Privateigentum an den Produkten der Arbeit war 
in alten Zeiten begründet, weil es sich auf die eigene Arbeit des Produzenten 
mit ihm gehörenden Produktionsmitteln gründete. Heute wird in planmäßig 
organisierten Einheiten (Fabriken, Großgrundbesitz, Großhandel) sozialisiert 
produziert, aber Produktionsmittel und Produkte werden privatim angeeignet. 
So entsteht ein sozialer Konflikt, d. i. ein innerer Widerspruch zwischen 
der angegebenen Produktionsweise und dem über ihr schwebenden Recht; ein 
Konflikt, der in den industriellen und kommerziellen Kreisen sichtbar zum 
Ausdruck kommt. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln passe nicht 
mehr zu der veränderten Sozialökonomie; es sei nicht ungerecht, aber 
wirtschaftlich veraltet. 2. Der zweite innere Konflikt bestehe in der 
Gesellschaft der Gegenwart als Gegensatz zwischen der Organisation der Pro- 
duktion in der einzelnen Fabrik und der Anarchie der Produktion in der ganzen 
Gesellschaft. Zufolge dieser Kollision rebelliere die Produktionsweise gegen 
die Austauschweise. In diesem sozialen Widerstreite müsse nach dem allge- 
meinen Gesetze der materialistischen Geschichtsauffassung die gesellschaft-
	        
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