300 WILHELM KauL: Kirchenrecht.
Kirche bestimmt. Die katholische Kirche hat in wichtigen gesetzgeberischen
Akten aus jüngerer Zeit, nämlich durch das auf speziellen Befehl des Papstes
von der Congregatio Concilii erlassene Dekret Ne temere vom 2. August 1907,
in Geltung seit 19. April 1908, sowie durch die Constitutio Pis. X Provida vom
18. Januar 1906 ihr Eheschließungsrecht revidiert. Diese Revision berührt
zwar nicht das grundsätzliche Verhältnis in den Ansprüchen der katholischen
Kirche gegenüber dem Staat, wohl aber hat sie nicht nur für die ganze katho-
lische Kirche die Anwendung des innerkirchlichen Eherechts geklärt,
sondern im besonderen auch für das Deutsche Reich eine wohltätige Ent-
spannung im Verhältnis des katholischen Kirchenrechts zu nichtkatholischen
Eheschließungen herbeigeführt. Für das innerkirchliche Recht hat das De-
cretum Ne temere alle Zweifel über das Anwendungsgebiet des berühmten
Tridentinischen Ehedekrets Tamelsı beseitigt und dieses zugleich in wichtigen
Teilen zeitgemäß reformiert, namentlich durch Erweiterung der Zuständigkeit
des zur Eheschließung mitwirkenden Pfarrers, durch Beseitigung der bloß
passiven Assistenz und durch erleichterte Eheschließungsformen in Notfällen.
Dieses Dekret gilt fortan für das Gewissensgebiet aller Katholiken der Welt.
Die kirchliche Gültigkeit der Ehe hängt für sie von der Beobachtung
des neuen Ehedekrets ab. Dagegen ist:der Exklusivitätsanspruch der Herr-
schaft des katholischen Kirchenrechts gegenüber gemischten Ehen nicht
weiter aufrecht erhalten. Das ist der Hauptinhalt der nur für das Deutsche
Reich ergangenen Constitutio Provida. Gemischte Ehen sind seit Ostern 1908
im ganzen Deutschen Reich als kirchlich gültig anerkannt, auch ohne Be-
obachtung der Form des Dekrets. Endlich werden Nichtkatholiken von
Geburt, ob getauft oder nicht getauft, wenn sie unter sich eine Ehe eingehen,
an die für Katholiken vorgeschriebene Form der Eheschließung überhaupt
nicht für gebunden erklärt. Damit ist der Anspruch einer Herrschaft des katho-
lischen Kirchenrechts über Ehen der Protestanten endgültig beiseite gelegt.
Diese Revision war gut, hat aber, wie zu wiederholen, das grundsätzliche Ver-
hältnis zum Staate nicht berührt. Nach wie vor lehnt die katholische Kirche
einen Ausgleich ihrer Ehegesetzgebung mit dem durch Einführung der obli-
gatorischen Zivilehe und bürgerlichen Ordnung der Ehescheidung wie Ehe-
gerichtsbarkeit säkularisierten Eherecht des Deutschen Reiches ab, wiewohl
durch den Anschluß des Reichseherechts an die dogmatischen Voraussetzungen
und an die Formen des kanonischen Eherechts ein solcher Ausgleich ohne Preis-
gabe wesentlicher kirchlicher Ansprüche möglich wäre. So bleibt durch Fest-
haltung der Unterscheidung von matrimonium ratum und legitimum der
Dualismus von kirchlicher und bürgerlicher Ehe dauernd organisiert. Um-
gekehrt hat nach den Grundanschauungen der Reformation die evangelische
Kirche das ursprüngliche Recht des Staates auf gesetzliche Regelung des Ehe-
wesens vorbehaltlos anerkannt und gegenüber der geschehenen Tatsache
solcher Regelung eine dem Rechte des Staates wie den Bedürfnissen der Kirchen-
gemeinschaft entsprechende Revision ihres Ehewesens durch ihre neuen Trau-
ordnungen (Preuß. K.G. v. 27. VII. 1880) herbeigeführt. Diese Revision ist