Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

Stellung der 
Kirchen zur 
Leichen- 
verbrennung. 
302 WILHELM KaHr: Kirchenrecht. 
sie der Seele des Verstorbenen mit einer in die Ewigkeit ragenden Rechtsgewalt 
ein Gnadenmittel, das suffragium animae vorenthält. Diese Auffassung ist in 
der evangelischen Kirche unmöglich, Unmöglich daher auch, die Versagung 
des kirchlichen Begräbnisses irgendwie unter den Gesichtspunkt einer strafenden 
Kirchenzucht zu stellen. Die Versagung des kirchlichen Begräbnisses in der 
evangelischen Kirche muß prinzipgemäß zur Voraussetzung nehmen, daß, 
aus welchem Grunde immer, der mitgliedschaftliche Zusammenhang 
zwischen ihr und dem Verstorbenen schon bei dessen Lebzeiten gelöst war. 
Die Nichtbeteiligung am Begräbnis ist der folgerichtige Ausdruck dieses Ver- 
hältnisses. Die Gründe jener Voraussetzung kasuistisch und formalistisch 
bestimmen zu wollen, widerspricht evangelischem Kirchenwesen ganz und gar. 
Ihm ist allein entsprechend, daß im weitherzigsten Geiste evangelischer Frei- 
heit, unter Berücksichtigung vor allem auch der Einwirkung auf Angehörige 
und Gemeinde, Pfarrer und Gemeindeorgane im Einzelfalle entscheiden. Auch 
zur Leichenverbrennung stellen sich beide Konfessionen grundsätzlich 
verschieden. In den neueren Entscheidungen der Congregatio Inquisitionis ist 
sie als ‚‚detestabilis abusus‘' bezeichnet und sind, wenn sie auf eigener Anordnung 
des Verstorbenen beruht, jeder kirchliche Leichenritus und die Exequien ver- 
sagt. In der evangelischen Kirche ist noch nicht überall ein prinzipiell ab- 
geklärter Standpunkt gewonnen. Doch ist die anfangs schroff ablehnende 
Haltung bereits einer milderen Praxis gewichen, vereinzelt auch schon eine 
gesetzliche Regelung eingetreten. Denn grundsätzlich muß die evangelische 
Kirche Kulturentwickelungen, welche dem Worte Gottes nicht zuwider sind, 
auch in ihrer Rechtsordnung Rechnung tragen. Dogmatisch ist das Verbot 
der Leichenverbrennung niemals zu begründen. Die Bestattung in der Erde 
ist nur eine durch die Geschichte geheiligte christliche Sitte. Daher kann bei 
staatlich gestatteter Leichenverbrennung die evangelische Kirche auch der 
öffentlich amtlichen Beteiligung sich nicht entziehen, falls sie sich nicht selbst 
eines der wichtigsten Mittel religiöser Einwirkung auf das Volksleben berauben 
will. Unter keinen Umständen kann die eigene Anordnung zur Leichenver- 
brennung als solche zu den Gründen gerechnet werden, aus welchen einem 
Kirchengliede die kirchliche Beteiligung zu versagen ist. Dies könnte nach 
den vorgetragenen Grundsätzen nur in dem einen Falle in Erwägung kommen, 
daß die Anordnung aus dem Grunde und zu dem Zwecke ausgesprochener- 
maßen erfolgt war, schon bei Lebzeiten der Tatsache des gelösten Zusammen- 
hanges zwischen Kirche und Kirchenglied einen Ausdruck zu geben. Dann ist 
die Nichtbeteiligung der Kirche zwar nicht Strafe, aber selbstverständliche 
Folge. 
In Preußen ist durch Staatsgesetz vom 14. September ıg1I die Feuer- 
bestattung neben der Erdbestattung für zulässig erklärt. Durch Erlaß des 
Kirchenregiments ist im Anschluß an eine Kundgebung der Generalsynode 
von I90g ausgesprochen, daß es zwar Pflicht und Aufgabe der Kirche sein muß, 
den mit dem geistlichen Gefühl des Volkes eng zusammenhängenden Brauch 
der Erdbestattung zu bewahren und zu pflegen, daß es aber den Geistlichen
	        
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