316 WILHELM KAHL: Kirchenrecht.
staatstums gebildet: der Staat eingeschlossen, umklammert vom Kirchentum.
Seinen klassischen gesetzlichen Ausdruck findet das System im Corpus Juris
Canonici. Seine monumentale Einzelurkunde ist die Bulla Unam Sanctam
Bonifaz’ VIII. von 1302. Die Kirche ist der die ganze Menschheit umfassende
göttliche Universalstaat. Die päpstliche Gewalt umspannt alles. Sie ist eine
priesterliche und Königliche zugleich. Jede andere Gewalt ist von ihr abgeleitet
und daher von ihr abhängig. Allgemein und tatsächlich hat sich dieser Anspruch
der Kirchenherrschaft nicht lange über den Anfang des 14. Jahrhunderts hinaus
ae durchgesetzt. Aber ist er darum untergegangen? Kommt das System für die
tum. Kirchenpolitik der Gegenwart noch irgendwie in Betracht? Die Frage ist
von größter praktischer Wichtigkeit, und sie ist zu bejahen. Der mittelalter-
liche Anspruch der Kirchenherrschaft selbst ist geblieben. Allerdings nur fiktiv,
nur als prinzipielle Verwahrung gegenüber der veränderten Weltlage. Aber
er ist noch heute als nachmittelalterliches Kirchenstaatstum lebendig. Ge-
legentlich wurde und wird er durch einen Hoheitsakt oder gesetzgeberischen
Vorstoß des Papstes in Erinnerung gebracht. Es wurden Könige nicht an-
erkannt, Staatsgesetze für nichtig erklärt, Verdammungsurteile gegen Ketzer
erlassen. Durch Syllabus, Vatikanisches Konzil, Leos XIII. Enzyklika über
den christlichen Staat vom I. November 1885 und andere schon oben unter
den Quellen genannte Zeugnisse ist das ganze der mittelalterlichen Hoheits-
ansprüche dauernd und prinzipiell dem Quellenkreise des geltenden katho-
lischen Kirchenrechts einverleibt. Das Prinzip der Kirchenherrschaft ist ver-
wahrt. Ihre Wiederherstellung wird immerhin als ein mögliches Ziel der Ent-
wickelung offen gehalten. In diesem Sinne muß noch heute in der staatlichen
Kirchenpolitik mit dem mittelalterlichen Kirchenstaatstum gerechnet werden.
Dieser latente Vorbehalt ist die bleibende und tiefste Quelle von Beun-
ruhigung und Mißtrauen. Grundbedingung einer Versöhnung der katholischen
Kirche mit dem modernen Staat würde der grundsätzliche Verzicht auf den
fiktiven Fortbestand der mittelalterlichen Kirchenherrschaft sein. Zu erwarten
ist ein solcher Verzicht nicht. Aber er könnte erklärt werden ohne Schädigung,
ja mit Gewinn für das religiöse Wesen der katholischen Kirche.
Staatekirchen- Mit Beginn des 14. Jahrhunderts setzen diejenigen Kräfte ein, welche in
fortgesetzter Steigerung der tatsächlichen Verwirklichung des mittelalterlichen
Kirchenstaatstums den Boden entziehen. Die Anzeichen einer grundsätzlich
veränderten Weltanschauung, die Rezeption des römischen Rechts als Teil-
erscheinung der Renaissance, die Ausbildung der Landeshoheit in Deutschland, -
die Tatsache und der Geist der Reformation, endlich der das ganze Volksleben
aufsaugende Staatsabsolutismus haben die Bedingungen der päpstlichen Ein-
und Alleinherrschaft zerstört. Das Ergebnis ist die völlige Umkehr der Herr-
schaftsverhältnisse: das Staatskirchentum. Die Kirche, und seit dem
16. Jahrhundert die Kirchen eingeschlossen, umklammert vom Staatstum.
Je nach der Eigenart der Staaten und Herrscherpersönlichkeiten hat sich
dieses kirchenpolitische System ungemein reich und verschiedenartig entwickelt.
Cäsareopapismus. Anders im Cäsareopapismus des 14. und I5. Jahrhunderts, in welchem das