Widerstände
gegen das
System der
Kirchenhoheit
im ı9. Jahr-
hundert.
Christliche
Staatsidee. .
318 WILHELM KAHL: Kirchenrecht.
zwischen Staat und Kirchen treten zu lassen, kerngesund auch in einer großen
Anzahl ihrer gesetzlichen Bestimmnngen, hat sie doch im einzelnen mehrfach
durch Überspannung der Staatsmacht oder falschen Gebrauch strafrechtlichen
Zwanges verletzend in die Kirchenfreiheit eingegriffen. So etwa in den Be-
stimmungen über die Absetzbarkeit von Kirchenbeamten und die Bestrafung
des Messelesens. Das Urteil über das verwerfliche Einzelne hat aber unver-
meidlich das Urteil über das Ganze bestimmt. Daher der kirchenpolitische
Konflikt. In dem teilweisen Unrecht des Staates lag auch der Grund für die
Notwendigkeit seines Rückzuges und im letzten Erfolg die Ursache der noch
gegenwärtig so viel beklagten Abhängigkeit des Staates von dem durch seine
eigene Schuld gestärkten politischen Katholizismus im Reich. Die Lehre,
welche der moderne Staat aus diesen Erfahrungen zu ziehen hat, liegt auf der
Hand: jeder Rückfall in das Staatskirchentum schwächt die durch das System
der Kirchenhoheit gewährleistete feste und gerechte Position des Staates.
Bevor aber das letztere im 19. Jahrhundert zum grundsätzlich herrschen-
den System in der Gesetzgebung sich durchringen konnte, hatte es die Aus-
einandersetzung mit zwei weiteren Vorstellungsreihen über das Verhältnis von
Staat und Kirche zu bestehen, deren eine vorwiegend von evangelischer Seite
aufgenommen war, deren andere ihre praktische Bedeutung ausschließlich in
den Beziehungen des Staates zur katholischen Kirche besitzt: christliche
Staatsidee und Koordinationstheorie.
Der Gedanke des Staatschristentums hatte seinen Anknüpfungspunkt
in einem bekannten geschichtlichen Vorgang, in der heiligen Alliance von I815.
In Alexander I. von Rußland, Franz I. von Österreich und Friedrich Wilhelm III.
von Preußen schlossen die europäischen Repräsentanten der drei großen christ-
lichen Kirchen einen Bund, um ‚über den Zwiespalt des Bekenntnisses hinaus
das Christentum zum höchsten Gesetz des Völkerlebens zu erheben.‘‘' Inter-
nationale Realität fand der phantastische Plan nicht. Aber innerhalb Deutsch-
lands fand der Gedanke vom christlichen Staat wirksame literarische und parla-
mentarische Vertreter. Im einzelnen unter ihnen eine weitgehende Divergenz
der Forderungen und Folgerungen. Aber allgemein die Voraussetzung: das
Christentum ist Staatsreligion. Nicht das Christentum in der Bekenntnis-
prägung einer bestimmten Konfession, sondern als Abstraktion aus den allen
christlichen Bekenntnissen gemeinschaftlichen Grundwahrheiten. Die An-
sprüche treten vor allem im Einfluß auf das Schulwesen, das Eherecht, die
Strafrechtspflege, den bürgerlichen Charakter der Sonn- und Feiertagsordnung
und auf die politische Rechtsfähigkeit der Staatsangehörigen hervor. Nicht-
christen sollen Bürger minderen Rechtes sein. Als eine im ganzen folgerichtig
durchgeführte Verhältnisform von Staat und Kirche hat das System nicht Be-
stand gewinnen können. Es ist in seinen Grundvoraussetzungen unwahr,
insofern das als tatsächliche Unterlage fingierte christliche Volkstum eben-
sowenig existiert, als ein Christentum mit interkonfessionellem Inhalte real
anerkannt wird. Diese Art der Verbindung von Staat und Kirche stünde mit
dem Wesen beider im Widerspruch. Das Ideale und Durchführbare aus den