Auflösung des
evangelischen
l.andeskirchen-
tums.
324 WILHELM KAHL: Kirchenrecht.
Realpolitiker wird ernsthaft mit dieser Möglichkeit rechnen. Sie wäre schon
nicht mehr der Ausdruck eines Bundesstaatsverhältnisses, sondern das An-
zeichen seiner Auflösung und des Überganges zum Einheitsstaat. Eben hierin
liegt einer der vielen Unterschiede im Vergleich zur Lage der Dinge in Frank-
reich. Da hatte es die Staatsgesetzgebung nur mit der Aufräumung eines auf
einheitlichen Rechtsquellen beruhenden Staatskirchenrechts zu tun. In jener
geschichtlichen Gebundenheit liegt ebenso die grundlegende Verschiedenheit
im Vergleich zu Nordamerika. Hier wurde das System der Trennung von Staat
und Kirche sofort im Anfang der Staaten- und Kirchengründung eingeführt.
Ein intimer geschichtlicher AssimilationsprozeßB war von vornherein abge-
schnitten. Wir aber können nicht heute eine vielhundertjährige Vergangenheit,
in welcher der Staat und die Kirchen sich eng ineinander verschlungen haben,
einfach ignorieren und ein kirchenpolitisches System, selbst wenn es vom
Standpunkte der Theorie uns noch so preiswürdig erscheinen sollte, durch
Rechtssatz in die Entwickelung hineinstellen.
Aber auch wenn man sich die Entwickelung der Dinge so denken wollte,
daß im Wege allmählicher Umbildung des Landeskirchenrechts die Trennung
von Staat und Kirche zu vollziehen sei, so könnte sie doch unter allen Um-
ständen nur eine interkonfessionelle, d. h. eine gegenüber allen öffent-
lichen Kirchengesellschaften eintretende sein. Aus Wesen und Organisation
der katholischen Kirche würden sich unüberwindliche Schwierigkeiten nicht
ergeben. Wohl aber steht ihr zur Zeit in Deutschland in der Tatsache des
evangelischen Landeskirchentums ein Hindernis entgegen, das nicht
zwangsweise durch Akte der Gesetzgebung zu beseitigen ist. Auf kleine evan-
gelische Kirchenkörper mit völlig verschieden gearteten geschichtlichen Voraus-
setzungen, wie Genf und Basel, kann man sich nicht berufen. Die nun bald
vierhundertjährige Form des deutschen evangelischen Landeskirchentums mit
seiner monarchischen Spitze des landesherrlichen Kirchenregiments
läßt sich nicht willkürlich sprengen. Zwar sind in jüngster Zeit von Erich
Foerster unter der Parole der Religionsfreiheit und mit dem Ziele der Ent-
staatlichung der Kirche und der Entkirchlichung des Staats geistvolle, gut
gemeinte und wohlüberlegte Verfassungsvorschläge zur Auflösung des Landes-
kirchentums und zum Ersatz durch einen freien evangelischen Gemeinde-
verband gemacht worden. Ihrer Verwirklichung gehen aber die Grundvoraus-
setzungen ab. Es fehlt ihr vor allem die Zustimmung der evangelischen öffent-
lichen Meinung selbst, ohne die eine solche Revolution sich nicht durchsetzen
kann. Ohne Volksabstimmung ist mit absoluter Sicherheit zu sagen, daß jene
in der weit überwiegenden Mehrheit aller Evangelischen unter den zur Zeit im
Reich gegebenen Bedingungen das Landeskirchentum noch immer als die beste
Bürgschaft für die Erhaltung der evangelischen Kirche als Volkskirche be-
wertet und von ihm nicht lassen will. Sie will sich nicht begnügen mit einer auf
rein äußerliche Funktionen beschränkten Verbandsregierung und will sich nicht
einlassen auf eine rein individualistische Gemeindekirche mit voller Souveränetät
über Lehre und Bekenntnis. Es fehlt aber ferner auch an der Voraussetzung