Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

A. Reich und Einzelstaat. V. Das Reichsland. 339 
kommen immer noch-neue hinzukommen. Diese Häufung von Staatsangehörig- 
keiten hat keinen Sinn, da es tatsächlich doch nur auf die Zugehörigkeit zu 
dem Staate ankommt, in dessen Gebiet man seinen Wohnsitz hat. Gegenwärtig 
(1912) liegt dem Reichstag ein Gesetzentwurf vor zur Neuregelung des Erwerbs 
und Verlustes der Staatsangehörigkeit, welcher zahlreiche Abänderungen des 
jetzt geltenden Gesetzes in Aussicht nimmt. Die Grundprinzipien, auf welchen 
das jetzt geltende Recht beruht, sollen aber aufrecht erhalten werden und daher 
werden auch die damit verbundenen Übelstände im wesentlichen fortdauern, 
namentlich die gleichzeitige Angehörigkeit zu verschiedenen Bundesstaaten. 
Der Verlust durch ununterbrochenen zehnjährigen Aufenthalt im Ausland soll 
mit Rücksicht auf die Militärpflicht in Wegfall kommen. 
Von der Staats- und Reichsangehörigkeit zu unterscheiden ist das sog. Indigenat. 
Indigenat oder Reichsbürgerrecht, d. i. der im Art. 3 der RV. ausgesprochene 
Grundsatz, daß der Angehörige eines jeden Bundesstaates in jedem anderen 
Bundesstaate wie ein Inländer zu behandeln ist. Diese Vorschrift hat nur noch 
insoweit Bedeutung, als nicht durch die Reichsgesetze ein einheitlicher und 
gleichmäßiger Rechtszustand für das ganze Reichsgebiet hergestellt worden ist. 
Es ist dies in so großem Maße geschehen durch die Justiz-, Gewerbe-, Militär-, 
Finanzgesetze usw. des Reichs, daß der Art. 3 kaum mehr ein Anwendungs- 
gebiet hat. 
V. Das Reichsland. Das Reichsland unterscheidet sich von den Bundes- Begrif. 
staaten dadurch, daß in demselben keine eigene, selbständige, von der Reichs- 
gewalt verschiedene Staatsgewalt besteht, sondern das Reich die volle Staats- 
gewalt, nicht nur die in der RV. und den Reichsgesetzen ihm zugewiesene Zu- 
ständigkeit hat. Das Reichsland ist demnach kein Staat, kein Bundesglied, 
sondern ein unmittelbares Reichsterritorium. Das Reichsgesetz vom 9. Juni 
1871 über die Vereinigung von Elsaß und Lothringen mit dem Deutschen Reich 
bestimmt im $ 3: ‚Die Staatsgewalt in Elsaß und Lothringen übt der Kaiser 
aus‘‘; er übt sie aus als Organ des Reichs und im Namen des Reichs, nicht als 
Landesherr wie in Preußen. Auf Grund des Vereinigungsgesetzes $ 2 trat aber 
die RV. am ı. Januar 1874 in Geltung. Dadurch wurde in die Verfassung von 
Elsaß-Lothringen ein Gegensatz gebracht, welcher die Quelle vieler Schwierig- 
keiten wurde; denn die RV. setzt Staaten mit einer eigenen von der Reichs- 
gewalt verschiedenen Staatsgewalt voraus, welche hinsichtlich aller der Zu- 
ständigkeit des Reichs nicht unterliegenden Angelegenheiten Autonomie, 
Selbstverwaltung und Gerichtsbarkeit haben; der Begriff des Reichslandes steht 
dazu im Gegensatz; er beruht gerade darauf, daß es für das Reichsland keine 
besondere, von der Reichsgewalt verschiedene Staatsgewalt gibt und daß alle 
Landesangelegenheiten Reichsangelegenheiten sind. Das Vereinigungsgesetz 
enthielt zwei miteinander unvereinbare Grundsätze, welche gleichzeitig die 
Fundamente waren, auf denen sich die Verfassung des Reichslandes aufbaute. 
Subjektiv verblieb die gesamte Staatsgewalt dem Reich und wurde durch 
Reichsorgane ausgeübt; objektiv aber trat eine Unterscheidung ein zwischen 
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