Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

Naturzustand. 
Begriff der 
Gesellschaft. 
18 RUDOLF STAMMLER: Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft. 
I. Das Verbinden. Dem sozialen Leben der Menschen hat man 
nicht selten die Erwägung eines sog. Naturzustandes gegenübergestellt. 
Beides knüpft sachlich an die seitherige Erörterung an. Es handelt sich bei 
jedem von ihnen um eine eigene Weise der menschlichen Zwecksetzung und 
Zweckverfolgung. Das eine Mal wird der Mensch in voller Vereinzelung vor- 
gestellt, er hat für sich allein zu sorgen und weder Hilfe noch Anforderung von 
anderen Menschen zu erwarten; zum andern soll der Kampf um das Dasein 
in gemeinsamem Tun geführt werden, unser Blick trifft auf verbundene 
Menschen. Alsdann ist es nicht sowohl die Gleichheit der von ıhnen über- 
einstimmend erstrebten Gegenstände, die das bestimmende Merkmal ab- 
gibt, sondern die Art und Weise, in der verschiedene Willensinhalte mitein- 
ander verknüpft werden. Es liegt hier ein verbindendes Wollen vor, das 
ist ein solches, das ein mehreres Wollen als Mittel füreinander be- 
stimmt. 
Die Gegenüberstellung des gesellschaftlichen und des natürlichen 
Zustandes braucht hierbei nicht im Sinne einer geschichtlichen Tatsache ge- 
nommen zu werden. Sie bedeutet in ihrem wesentlichen Sinne eine Abstraktion, 
Wer sie vollzieht, nimmt vorläufig von allen ihm bekannten Lebensbedingungen 
der Menschen Abstand; er kennt solche ja nur auf dem Grunde der sozialen 
Frage. Nun will’er einmal in Gedanken den Einzelnen so isolieren, daß dessen 
sämtliche Strebungen in ihrem bedingten Vorkommen nur dieser vereinzelten 
Person dienen, Dann aber kann bei weiterem Ausdenken der Frage gar nicht 
ausgewichen werden, wie nun das vereinzelte Wirken eines jeden zu dem des 
andern sich verhalte, Die abstrahierende Vorstellung eines Naturzustandes 
im besprochenen Sinne ist also immer nur vorläufig. In folgerichtiger Weise 
werden wir von ihm zu dem Gedanken des verbindenden Wollens geführt. 
Der Begriff der menschlichen Gesellschaft erweist sich sonach als eine lo- 
gische Notwendigkeit, zu der 'man von der Darlegung der Reihe von 
Mitteln und Zwecken überhaupt unvermeidlich gelangt. 
Aus dieser Erwägung läßt sich der genannte Begriff des sozialen Lebens 
schärfer analysieren und klarstellen. Man hat dies in der modernen Soziologie, 
die von Comte aufgebracht und namentlich von Spencer ausgeführt ist, durch 
Bezugnahme auf naturwissenschaftliche Art zu erledigen gesucht. Es gebe 
„soziale Aggregate‘ als ‚„Organismen‘‘, sobald nämlich ein Beisammensein 
von etwas längerer Dauer und einer gewissen Beständigkeit vorliege. Allein 
das bringt die eigene Art der sozialen Verbindung in keiner Weise zu klarem 
und methodisch gesichertem Besitz. Andere suchen einen Halt am Sprach- 
gebrauche, indem sie besonders die Bedeutungen des Wortes „Gesellschaft‘‘ 
suchen, während dies doch immer nur seine Anleitung zu weiterem sachlichen 
Untersuchen sein kann. Neuestens hat Simmel gemeint, Gesellschaft liege 
überall vor, wo mehrere Individuen in ‚Wechselwirkung‘ treten. Da jedoch 
die Kategorie der Wechselwirkung nur eine Methode der Naturbetrachtung 
von einzeln angesehenen Menschen ist, so wird der Begriff der ‚Gesell- 
schaft‘‘, als eine neue und eigenartige Einheit, durch diese flüchtig ausge-
	        
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