Naturzustand.
Begriff der
Gesellschaft.
18 RUDOLF STAMMLER: Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft.
I. Das Verbinden. Dem sozialen Leben der Menschen hat man
nicht selten die Erwägung eines sog. Naturzustandes gegenübergestellt.
Beides knüpft sachlich an die seitherige Erörterung an. Es handelt sich bei
jedem von ihnen um eine eigene Weise der menschlichen Zwecksetzung und
Zweckverfolgung. Das eine Mal wird der Mensch in voller Vereinzelung vor-
gestellt, er hat für sich allein zu sorgen und weder Hilfe noch Anforderung von
anderen Menschen zu erwarten; zum andern soll der Kampf um das Dasein
in gemeinsamem Tun geführt werden, unser Blick trifft auf verbundene
Menschen. Alsdann ist es nicht sowohl die Gleichheit der von ıhnen über-
einstimmend erstrebten Gegenstände, die das bestimmende Merkmal ab-
gibt, sondern die Art und Weise, in der verschiedene Willensinhalte mitein-
ander verknüpft werden. Es liegt hier ein verbindendes Wollen vor, das
ist ein solches, das ein mehreres Wollen als Mittel füreinander be-
stimmt.
Die Gegenüberstellung des gesellschaftlichen und des natürlichen
Zustandes braucht hierbei nicht im Sinne einer geschichtlichen Tatsache ge-
nommen zu werden. Sie bedeutet in ihrem wesentlichen Sinne eine Abstraktion,
Wer sie vollzieht, nimmt vorläufig von allen ihm bekannten Lebensbedingungen
der Menschen Abstand; er kennt solche ja nur auf dem Grunde der sozialen
Frage. Nun will’er einmal in Gedanken den Einzelnen so isolieren, daß dessen
sämtliche Strebungen in ihrem bedingten Vorkommen nur dieser vereinzelten
Person dienen, Dann aber kann bei weiterem Ausdenken der Frage gar nicht
ausgewichen werden, wie nun das vereinzelte Wirken eines jeden zu dem des
andern sich verhalte, Die abstrahierende Vorstellung eines Naturzustandes
im besprochenen Sinne ist also immer nur vorläufig. In folgerichtiger Weise
werden wir von ihm zu dem Gedanken des verbindenden Wollens geführt.
Der Begriff der menschlichen Gesellschaft erweist sich sonach als eine lo-
gische Notwendigkeit, zu der 'man von der Darlegung der Reihe von
Mitteln und Zwecken überhaupt unvermeidlich gelangt.
Aus dieser Erwägung läßt sich der genannte Begriff des sozialen Lebens
schärfer analysieren und klarstellen. Man hat dies in der modernen Soziologie,
die von Comte aufgebracht und namentlich von Spencer ausgeführt ist, durch
Bezugnahme auf naturwissenschaftliche Art zu erledigen gesucht. Es gebe
„soziale Aggregate‘ als ‚„Organismen‘‘, sobald nämlich ein Beisammensein
von etwas längerer Dauer und einer gewissen Beständigkeit vorliege. Allein
das bringt die eigene Art der sozialen Verbindung in keiner Weise zu klarem
und methodisch gesichertem Besitz. Andere suchen einen Halt am Sprach-
gebrauche, indem sie besonders die Bedeutungen des Wortes „Gesellschaft‘‘
suchen, während dies doch immer nur seine Anleitung zu weiterem sachlichen
Untersuchen sein kann. Neuestens hat Simmel gemeint, Gesellschaft liege
überall vor, wo mehrere Individuen in ‚Wechselwirkung‘ treten. Da jedoch
die Kategorie der Wechselwirkung nur eine Methode der Naturbetrachtung
von einzeln angesehenen Menschen ist, so wird der Begriff der ‚Gesell-
schaft‘‘, als eine neue und eigenartige Einheit, durch diese flüchtig ausge-