Schluß. 36g
scheinen und zum Teil auch wirklich stören. Während die Geschichte des Privat-
rechts ruhig dahinfließt wie ein breiter Strom in der Ebene, wird der Lauf der
Verfassungsgeschichte von Zeit zu Zeit durch wildbrausende Katarakte üunter-
brochen und die Richtung durch scharfe Biegungen verändert. Wenn .man
freilich zurückschauend die Entwickelung des Rechtes durch Jahrhunderte in
einem Blick zusammenfaßt, erkennt man wohl ein einheitliches Gesetz, eine
einheitliche Richtung; aber die konkrete Gestaltung ist immer durch Umstände
beeinflußt, welche dem Entwicklungsgesetze fremd, im Verhältnis zu diesem
zufällige Eingriffe sind. Der Ausgang eines Krieges, der Charakter eines Fürsten
oder Staatsmannes, der Erfolg einer Volksbewegung, das Aussterben einer
Dynastie und manche andere historische Tatsachen bewirken eine Veränderung
des Zustandes des Staatsrechts, welche ohne diese Einwirkung nicht oder anders
eingetreten wäre. Namentlich haben große Persönlichkeiten wie Friedrich der
Große, Napoleon, Bismarck, für die Gestaltung des Verfassungsrechts eine Be-
deutung, welche ihnen für das Privatrecht niemals zukommt, selbst dann nicht,
wenn sie eine Kodifikation desselben veranlassen. Die Lehre der historischen
Rechtsschule von der Kontinuität der Rechtsentwickelung hat für das Ver-
fassungsrecht nur eine ganz allgemein-geschichtsphilosophische Richtigkeit.
Allerdings ist auch ein jäher Bruch der Rechtsordnung immer geschichtlich
vorbereitet, oft nur der Abschluß einer langsam und im stillen vollzogenen Ver-
änderung; das Grundgefüge der alten Ordnung verschwindet nicht ganz aus
der neuen; aber die juristische Form, in welcher der Stoff der politischen
Verhältnisse und Zustände ausgeprägt ist, wird plötzlich eine andere. Bei dieser
‚Abhängigkeit der verfassungsgeschichtlichen Entwickelung von zufälligen Er-
eignissen ist es daher auch unmöglich, die zukünftige Fortbildung vorauszu-
sehen; es ist eine Betrachtung darüber jedenfalls nur unter der Voraussetzung
möglich, daß diese Fortbildung sich ruhig und ohne gewaltsame Eingriffe voll-
ziehen werde. Für das Verfassungsrecht Deutschlands kommt es in der Haupt-
‚sache auf zwei Verhältnisse an, auf das Verhältnis des Reiches zu den Einzel-
‚staaten und auf das Verhältnis der Krone (Regierung) zu der Volksvertretung.
Was das erste anlangt, so wird der uralte Widerstreit der zentripetalen und
zentrifugalen Kräfte, der zentralistischen und partikularistischen Tendenzen
zwar nicht aufhören, aber notwendigerweise seine Bedeutung und Gefährlichkeit
immer mehr verlieren; denn die Gemeinsamkeit der Interessen, die Gleichheit
des Rechtes, die gemeinsame Tragung aller militärischen und finanziellen Lasten,
die Einheit im völkerrechtlichen Verkehr, die Zusammenfassung der Streit-
kräfteunter dem kaiserlichen Oberbefehl und viele andere Einrichtungen schließen
die einzelnen Staaten so fest aneinander, daß sie immer mehr miteinander ver-
wachsen und, ohne ihre individuelle Existenz aufgeben zu müssen, sich immer
enger vereinigen. Die Gefahr eines Zusammenbruchs des Reiches, es sei denn
infolge eines unglücklichen Krieges, ist ausgeschlossen und die Unterdrückung
der Einzelstaaten und ihre Aufsaugung durch das Reich ist zur Erfüllung der
nationalen Aufgaben und zur Befriedigung der politischen Bedürfnisse des
deutschen Volkes unnötig. Das Nationalgefühl des Gesamtvolkes und das Staats-
Kultur der Gegenwart. II. 8. 2. Aufl 24