Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

370 PauL LABanD: Staatsrecht. 
bewußtsein der Bevölkerungen der Einzelstaaten stehen nicht mehr in einem 
unversöhnlichen Gegensatz, sondern ergänzen sich einander. 
Schwieriger ist es, eine Ansicht darüber zu gewinnen, wie sich das Verhältnis 
zwischen den obersten Organen des Reiches weiter entwickeln wird. Der von 
manchen Seiten ausgesprochene Gedanke, das allgemeine gleiche Wahlrecht 
zu beschränken, wird von ernsthaften Politikern wohl niemals in Betracht ge- 
nommen werden. Politische Rechte kann man den breiten Massen des Volkes 
nicht wieder nehmen; jeder Versuch einer Beschränkung des Wahlrechts würde 
das Reich in seinen Grundlagen erschüttern und seine Existenz bedrohen; 
er wäre undurchführbar und selbst wenn er unter besonderen, nicht vorher zu 
sehenden Umständen durchgeführt werden sollte, würde er eine Verbitterung 
und Reichsfeindschaft der überwiegenden Mehrheit des Volkes zurücklassen, 
welche für das Reich eine dauernde Gefahr bilden würde. Auch würde es weder 
der Billigkeit noch der Wohlfahrt des Reiches entsprechen, den Agrariern und 
Großindustriellen den alleinigen oder überwiegenden Einfluß auf die Gesetz- 
gebung und die Ausbeutung der arbeitenden Klassen einzuräumen. Das all- 
gemeine Wahlrecht aber führt zu einer fortschreitenden Demokratisierung des 
Reichstags, da die niederen Klassen naturgemäß sich in einem viel höherem 
Grade vermehren als die oberen und daher das Stimmenverhältnis sich fort- 
während zu ihren Gunsten verschiebt. Damit muß man rechnen, denn es ist 
unabwendbar. Um so wichtiger ist es aber zu verhüten, daß die Macht des 
Parlaments nicht noch mehr anwächst, als es bereits geschehen ist; denn Parla- 
mentarismus ist nicht Freiheit und Gerechtigkeit, sondern Parteiherrschaft. 
Wenn das Parlament die Regierung beherrscht, wird diese schließlich eine von 
der Majorität eingesetzte Verwaltungskommission. Das Mittel aber, durch 
welches das Parlament seine Macht fortwährend steigert, ist die Bewilligung 
neuer Steuern und Abgaben. Eine Regierung, welche immer mit der Forderung 
größerer Geldmittel an das Parlament herantritt, gerät notwendig in Abhängig- 
keit von demselben. In der festen Ordnung der Finanzwirtschaft, in der dau- 
ernden Ausgleichung der Ausgaben und Einnahmen liegt der Angelpunkt für 
die Richtung, welche die Entwickelung des Verfassungsrechts einschlagen wird; 
sie wird auch im Reichstag selbst den Parteikämpfen einen großen Teil ihrer 
Schärfe nehmen. In der auswärtigen Politik und in der Finanzpolitik liegt die 
Zukunft des Reiches,
	        
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