Begritflicher
Unterschied
von Recht und
Sitte.
20 RUDOLF STAMMLER: Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft,
Wollen des einzelnen getrennt von dem des anderen. Es ıst das wesentliche
Merkmal des Innenlebens, das somit dem Zusammenwirken gegenüber-
tritt. Wir erhalten hierdurch eine klare Unterscheidung der Begriffe ‚sitt-
lich‘‘ und ‚sozial‘. Es sind beides Arten des menschlichen Wollens, die nach
logischen Merkmalen abgeteilt werden; von grundsätzlicher Berechtigung
ihres Inhaltes ist zunächst noch keine Rede, ein jedes von ihnen kann richtig
oder unrichtig sein.
Das Recht aber zählt ausschließlich zu der formalen Art des Zusammen-
wirkens. In seiner Vorstellung liegt notwendig das Ordnen zum Zusammen-
stehn, es verbindet zum gemeinsamen Kämpfen und Arbeiten. Es wird somit
als ein Wollen gedacht, das über den, durch es verbundenen, Menschen steht:
Das Recht ist eine Art des verbindenden Wollens.
IIl. Die Selbstherrlichkeit. Innerhalb der einen Art des Wollens
der sozialen, lassen sich wiederum verschiedene Möglichkeiten nach allge-
meinen logischen Merkmalen unterscheiden. Es tritt dieses geschichtlich zu-
tage in der Trennung des Rechtes von der Sitte.
Diese Gegenüberstellung wird als solche überall in selbstverständlicher
Art empfunden. Doch erst in der neueren Zeit sind energische Versuche zu
verzeichnen, den Unterschied in seiner begrifflichen Schärfe klarzulegen.
Dabei wird es nicht genügen, über das genetische Verhältnis beider Regel-
arten gewisse allgemeinere Erfahrungen aufzustellen. Man hat gemeint, daß
die soziale Regelung zeitlich mit der Sitte beginne und dann festgelegte
Bräuche und Gewohnheiten allmählich in rechtliche Sätze übergingen; und
es findet sich der Vergleich, daß die Sitte die „Knorpeln‘ in der Organisation
der menschlichen Gesellschaft darstellte, die nach und nach in die „Knochen“
des Rechtes übergingen. Aber solche Verallgemeinerungen einzelner sozialer
Ereignisse sind nur von komparativer Gültigkeit. Es läßt sich niemals voraus-
sehen, ob nicht eine entgegenstehende Beobachtung für Vergangenheit oder
Zukunft gemacht werden würde. Und es setzt jene genetische Art der Schil-
derung die systematische Trennung der beiden Begriffe immer schon voraus
Wenn man den formalen Begriff von Sitte und von Recht nicht besäße, so
würde ja auch niemals mit Grund gesagt werden können, daß ‚‚etwas‘‘ früher
mit dem einen und später mit dem: anderen Begriff zu bestimmen sei. Und
falls sich in der Literatur Sätze finden, wie ‚Sitte wird allmählich zum Recht
und Recht zur Sitte‘, ‚das Recht verändert die Sitten‘‘ u.a. m., so wird ein
begrifflicher Unterschied vorausgenommen und logisch durchgeführt; so
daß es doch auch möglich sein muß, die wesentlichen Merkmale einer solchen
Scheidung allgemeingültig festzustellen.
Nun geht es aber auch nicht an, den gedachten begrifflichen Uhnter-
schied von Recht und Sitte überhaupt durch Zerteilung des Inhaltes von ge-
wissen sozialen Regelungen wiederzugeben. Denn dieser besondere Inhalt unter-
liegt einem unaufhörlichen und unvermeidlichen Wechsel: Nur der Gegensatz
der formalen Merkmale in der Einteilung von Recht und Sitte bleibt stetig