I. Justiz u. Verwaltg. B. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Verwaltungsrechtspflege). 387
als sich in entgegengesetzten Richtungen entwickelt. Vorher waren sie, soweit
überhaupt differenziert, in organisatorischer wie prozessualer Hinsicht gleich-
förmig eingerichtet gewesen: kollegiale Formation der zweiten und dritten
Instanzen in der Justiz wie in der Verwaltung, schriftliches und geheimes Ver-
fahren, Entscheidung auf Grund der Akten hier wie dort, Unabhängigkeit der
Urteilsfinder weder hier noch dort, der Beschwerdeweg im Instanzenzug der
Verwaltung, alles in allem, für die Partei nicht schlechter als der Rechtsweg.
Eine Verschlechterung in diesem Sinne trat aber ein, als in den deutschen
Ländern die Kollegialverfassung der administrativen Zentralstellen durch das
bureaumäßige Ministerialsystem ersetzt (Preußen 1808—1810, Bayern und
Württemberg 1806, Baden 1809), damit aber eine sehr wesentliche Gewähr-
leistung unparteiischer und gerechter Verwaltungsentscheidungen beseitigt wurde,
während außerdem — eine beabsichtigte Wirkung des Ministerialsystems —
die Abhängigkeit der unteren Verwaltungsorgane von den Ministern verschärft,
die Energie und Intensität der gesamten Verwaltung stetig gesteigert wurde.
So wichen Justiz und Verwaltung in ihrer Formation, und mehr, in ihrer ganzen
Art, immer weiter voneinander ab. Während die moderne Gestaltung von
Gericht und Prozeß die individualistischen Forderungen berücksichtigt und
befriedigt, bleiben diese Forderungen, auch die berechtigtsten, unerfüllt, gegen-
über der Verwaltung, deren Einrichtungen einseitig das Übergewicht der öffent-
lichen Gewalt, die Staatsautorität betonten, was in den Augen vieler nichts
anderes bedeutete, als ein ungerechtfertigtes Nachgeben gegen die Macht-
interessen des herrschenden Beamtentums.
Dann sind die deutschen Staaten, einer nach dem anderen, zum kKonsti- Verfassungsstaat
tutionellen System übergegangen. Man täusche sich nicht: gerade dieser Wandel Rech untaat.
der Verfassung hat das Verhältnis des Staatsbürgers zur Verwaltung zunächst
nicht verbessert sondern nochmals verschlimmert. Die konstituionelle Bewegung
beruht nicht sowohl auf individualistischen Gedanken und Forderungen, als sie
ihrerseits diese Gedanken und Forderungen fortwährend steigert. Die Ver-
fassungsurkunden lassen es sich angelegen sein, die hauptsächlichsten Wünsche
des individualen Freiheitsgefühls als ‚Grundrechte‘‘ der Staatsbürger zu ver-
briefen, sie beruhen weiterhin allgemein auf dem Grundsatz der gesetzmäßigen
Verwaltung (vgl. oben S.382). All das hatte aber zunächst mehr programmatische
als reale Bedeutung. Die Verfassung war gegeben, der Rechtsstaat proklamiert,
der Polizeistaat dauerte fort. Denn wer war der Hüter des neuen öffentlichen
Rechtes, seiner individualistischen Grundsätze und Grundrechte? Niemand
anderes als die Verwaltung selbst, eben sie, gegen deren Expansions- und
Betätigungsdrang jene Grundsätze gegeben, jene Grundrechte verliehen worden
waren. Die Verwaltung blieb, wenn sie auch nicht mehr wie ehemals ihr eigener
Gesetzgeber sein durfte, doch auch nach der Verfassung noch ihr eigener
Richter, was praktisch nahezu dasselbe bedeutete wie der alte polizeistaat-
liche Zustand, da, kraft ihrer Befugnis, stets Richter in eigener Sache zu sein,
die Verwaltung sich jedes ihr erwünschte Recht auch dann zusprechen durfte,
wenn es ihr bestritten wurde.
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