C. Der Begriff des Rechtes. IV. Die Unverletzbarkeit. 23
Begriff des Rechtes zu finden ist. Denn es zeigt sich bei näherem Zusehen, daß
gerade innerhalb der autarchischen Anordnungen ein weiterer Unterschied
auftritt, der mit der Gegenüberstellung von rechtlicher und von willkür-
licher Gewalt sich kennzeichnet. Diese Gegenüberstellung ist in allen Epochen
der Menschengeschichte lebhaft und stark empfunden worden. Sein Wehel
ruft der Prophet Jesaias (10) über die Schriftgelehrten, die ‚„unrechte‘‘ Ge-
setze machen, und die unrecht Urteil schreiben, auf daß sie die Sache der
Armen beugen und Gewalt üben am Recht der Elenden des Volkes; eine
bessere Zeit weissagt er (32), da in Zukunft ein König gerecht herrschen wird,
und Beamte dem Recht gemäß walten werden. Und in gleicher Weise er-
tönt es aus dem germanischen Norden, in der Frithjofsage: ‚Wenn Macht
im Ding entscheidet, wird Unheil kommen, doch Recht bringt Ruhm dem
Könige, dem Lande Frommen.‘“
Wieder ist es aber erst die neuere Zeit, die es unternommen hat, die längst
gefühlte Gegensätzlichkeit in scharfen Begriffen sich näher zu bringen und
sie klar einzusehen.
Freilich könnte es auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, wie hier
überhaupt ein Zweifel möglich sei. Man möchte vielleicht meinen, daß es ein-
fach darauf ankäme, das bestehende Recht zu beohachten und Recht und Will-
kür so zu scheiden, daß ersteres das selbstherrliche soziale Wollen bedeute,
das in Gemäßheit des seitherigen Rechtes erstanden sei, während die willkür-
liche Gewalt im Gegensatze zu einem geltenden Rechtsgebot ihre Herkunft
habe. Allein es ist zu beachten, daß neues „Recht‘‘ sehr wohl entstehen kann
und häufig entstanden ist, ohne daß es sich auf die Ermächtigung eines bis
dahin geltenden Rechtes zu berufen vermag; und es ist nicht zu bezweifeln,
daß durch Staatsstreich und Revolution und anderen willkürlichen Rechts-
bruch doch oft ein rechtlicher Zustand geschaffen worden ist. Sieht man
jedoch davon ab, so kann der begriffliche Unterschied zwischen Recht und
Willkür nicht durch eine Verweisung auf das in der Geschichte seither schon
bestehende ‚‚Recht‘‘ bestimmt werden. Denn woher weiß man, daß diese seit-
herigen Normen gerade dem Begriffe der rechtlichen entsprechen? Einmal
muß für die wissenschaftliche Betrachtung logisch ein Anfang gemacht werden,
an irgendeinem Punkte der Geschichte muß die formale Zerteilung der recht-
lichen und der willkürlichen Gewalt klar geschieden auftreten.
Dabei kommt es auf eine radıkale Trennung beider Gebiete an, nicht bloß
auf eine Unterabteilung innerhalb der rechtlichen Normen. Wir gebrauchen
das Wort ‚Willkür‘ allerdings wohl auch für einen inhaltlich schlechten Rechts-
zustand, und es hat sich besonders Jhering bemüht, danach Recht und Will-
kür einander gegenüberzustellen. Für ihn ist Willkür eine gesetzliche Be-
stimmung, bei welcher der Gesetzgeber sich mit den allgemeinen Prin-
zipien des Rechtes in Widerspruch gesetzt hat. Dem gegenüber besteht
jedoch zunächst die Aufgabe, den Begriff des Rechtes einerseits und der
Willkür andererseits in ihrer formalen Eigenschaft zu bestimmen. Nach der
materialen Übereinstimmung mit den allgemeinen Prinzipien des Rechtes
Rechtliche und
willkürliche
Gewalt.
Rechts-
entstehung
aus Rechtsbruch.
Willkür
innerhalb des
Rechts.