412 GERHARD ANSCHOTZ: Verwaltungsrecht.
Versammlung ‚‚assemblee du Conseil d’Etat, statuant au contentieux‘‘, besteht
aus dem Vizepräsidenten des Staatsrats (ein im Hauptamt fungierender Be-
amter, Stellvertreter des Justizministers, welcher kraft Gesetzes Chefpräsident
des Staatsrates ist), aus den 9 Mitgliedern der section du contentieux, sowie
aus 8 weiteren Staatsräten, die nach bestimmten Regeln den übrigen Abteilungen
des Staatsrats (für Gesetzgebung und Verwaltung) entnommen werden. Den
Vorsitz führt in der weiteren Versammlung der Vizepräsident des Staatsrats,
welcher auch den beiden scctions präsidieren kann, den Vorsitz dort in der Regel
aber den besonderen Abteilungschefs überläßt.
Die Zuständigkeit war bis in die neueste Zeit so geordnet, daß die engeren
Versammlungen (Abteilungen) die an den Staatsrat gelangenden Streitsachen
in der Regel nur zu instruieren und der assemblee die Entscheidung zu überlassen
hatten. Durch das Finanzgesetz von 1910 (s. oben) ist jedoch, zwecks Ent-
lastung der weiteren Versammlung, den beiden sections Entscheidungsgewalt
beigelegt worden: ı. Die neue section speciale entscheidet in sog. „Kleinen
Streitsachen‘‘, Streitigkeiten über die Gültigkeit von Wahlen und über direkte
Steuern; 2. der section du contentieux werden gewisse Kategorien von Streit-
sachen durch Dekret des Staatsoberhauptes zugewiesen (das Dekret ist unter
dem 31. Mai IgIo ergangen; vgl. Jahrb. f. öffentl. Recht 5, 631); 3. in allen
anderen, den sections nicht zur Aburteilung überwiesenen Sachen, z. B.
Rekursen wegen Machtüberschreitung, bleibt es dabei, daß die section du con-
tentieux die Untersuchung führt und die weitere Versammlung die Entscheidung
fällt. Die weitere Versammlung entscheidet aber auch in den vor die Abteilungen
gehörigen Sachen stets dann, wenn diese Entscheidung in der Abteilung von
dem Vorsitzenden oder einem Mitgliede oder dem Regierungskommissar be-
antragt wird.
Sämtliche Entscheidungen des Conseil d’Etat bedurften früher, um Rechts-
wirksamkeit zu erlangen, der bestätigenden Unterschrift des Staatsoberhauptes,
waren also von Rechts wegen nicht Urteile, sondern nur Urteilsentwürfe. Erst
durch das Gesetz vom 24. Mai 1872 ist dieses Bestätigungserfordernis abgeschafft,
seitdem erst ist der Staatsrat, wie die Franzosen es ausdrücken, une cour sou-
veraine, exergant une juridiction propre, ein Gerichtshof, welcher nicht Gut-
achten abgibt, sondern Urteile fällt.
Der Staatsrat urteilt zunächst, wie erwähnt, über die Rekurse, die gegen
die Erkenntnisse der Präfekturräte eingelegt sind. Er entscheidet sodann, als
erste und einzige verwaltungsgerichtliche Instanz, ‚sur les demandes d’annu-
lation pour exces de pouvoir contre les actes des diverses autorites administra-
tives‘‘, also über Nichtigkeitsbeschwerden, welche gegen die Akte der Ver-
waltungsbehörden wegen Machtüberschreitung erhoben werden sind. Diese sehr
weitreichende, eine allgemeine Rechtskontrolle der gesamten Verwaltung durch
den Staatsrat ermöglichende Zuständigkeit beruhte vor 1872 mehr auf einem
vom Gesetzgeber stillschweigend anerkannten Gerichtsgebrauch, auf der Auf-
fassung des Conseil d’Etat von sich selbst, als auf einer formellen gesetzlichen
Grundlage; die letztere ist erst geschaffen worden durch das mehrfach angeführte