I. Justiz u. Verwaltg. B. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Verwaltungsrechtspflege). 413
Gesetz vom 24. Mai 1872, dem der vorhin zitierte Satz entnommen ist. Mit
der demande d’annulation können Verfügungen und Entscheidungen aller
Staatsbehörden, die Minister nicht ausgenommen, und Selbstverwaltungsorgane
vor den Staatsrat gebracht werden, zwecks Nichtigkeitserklärung wegen ‚exce&s
de pouvoir‘‘. Dieser Begriff ist durch eine umfangreiche Rechtsprechung des
Staatsrats festgestellt worden. Danach gilt als exc&s de pouvoir erstens jede
Kompetenzüberschreitung, sodann die Vernachlässigung wesentlicher Forma-
litäten seitens der Verwaltungsorgane. Drittens ist jeder Verwaltungsakt,
welcher auf Nichtanwendung oder unrichtiger Anwendung der Gesetze be-
ruht, mit dem Nichtigkeitsgrund des exces behaftet und viertens pflegt der
Staatsrat Verwaltungsakte selbst dann zu kassieren, wenn sie zwar nicht
dem Text, wohl aber der Absicht des Gesetzes widersprechen, indem Ver-
waltungsbefugnisse zu Zwecken benutzt worden sind, denen sie nach dem
Willen des sie begründenden Gesetzes nicht dienen sollen (‚‚detournement du
pouvoir“).
3. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in England. Das Wesen der 3. England.
Verwaltung und die Formen des Verwaltens waren in diesem Inselreiche von
jeher andere als auf dem Festlande; sie sind auch in ihrer gegenwärtigen Ge-
staltung, und gerade in dieser, mit den kontinentalen Verwaltungseinrich-
tungen völlig inkommensurabel. Dies gilt auch von den Institutionen, welche
gewährleisten sollen, daß bei der Ausübung der öffentlichen Gewalt alles mit
rechten Dingen zugeht. Frühzeitiger und schärfer als sonstwo ist in England
der Gedanke des Rechtsstaates erfaßt worden, aber seine Erfüllungsgarantien
suchte und fand man auf Wegen, die von den typisch-kontinentalen weit ab-
weichen. Verwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtsbarkeit im deutschen
oder französischen Sinne kennt man in England nicht.
Bei uns herrscht seit Jahrhunderten die Gegensätzlichkeit von Privat- Einhalt der
und öffentlichem Recht; die Entwickelung der staatlichen Einrichtungen knüpft Rechterechuns
hieran, mit immer schärferer Betonung, die Folgerung, daß Vollzug und Hand- in England.
habung des öffentlichen Rechtes (abgesehen von der Strafrechtspflege) nicht
Sache des Richteramts, sondern der Staatsleitung sei. In England aber geht
man zu jeder Zeit und heute von dem Gedanken der Einheit des Rechtes und
und der Rechtsprechung aus. Die uns von den Römern überkommene Auf-
fassung, daß alle Justiz grundsätzlich iurisdictio inter privatos sei (oben S. 377),
ist in England nie anerkannt worden, und daher bestehen dort unsere prin-
zipiellen Bedenken gegen eine Erstreckung der Zuständigkeit der ordentlichen
Gerichte auf Streitfragen zwischen Staat und Individuum nicht. Polizeibefehl
und Steuerauflage sind nach englischer Anschauung Tatsachen des gemeinen
Rechtes ebenso wie Eigentumserwerb und Erbfall, Besitzstörung und Vertrags-
bruch; wie diese, so können auch jene vor den ordentlichen Richter gebracht
werden. Eine Verwaltung mit eigener Jurisdiktion in allen sie berührenden oder
interessierenden Fragen hat es in England nie gegeben, nie auch eine Entschei-
dung von Rechtsstreitigkeiten im Verwaltungswege, woraus erhellt, daß für
jene unter unseren Verhältnissen schließlich nötig gewordene Reform des Ver-