C. Der Begriff des Rechtes. IV. Die Unverletzbarkeit. 25
artige „Anomalien‘' erst eine Verarbeitung und Überwindung „durch die sitt-
liche Kraft und Gesundheit des Volkes‘ erfahren müßten, sonst werde ein
„krankhafter Zustand‘ daraus, während sie nach jenem ersten in den Rechts-
zustand, als ‚‚neuer, rechtmäßiger Bestandteil übergehn‘'; — da aber ein ‚„krank-
haftes‘‘ Recht doch auch schon ein ‚Recht‘ ist, so liegt letzteres bereits vor,
sobald neues soziales Wollen dem formalen Begriffe des Rechtes entspricht.
Binding gibt bei der Besprechung der Gründung des Norddeutschen Bundes
die Erklärung, daß darum dort originär ‚„Recht‘' entstehen konnte, weil das
Volk und die Regierungen die Verfassung des Bundes in der Absicht verein-
barten, von einem bestimmten Tage an sich gemeinsam unter das Gesetz ihres
gemeinsamen Willens zu stellen; — eine Auskunft, die aber doch offenbar eine
allgemeingültige Möglichkeit, neues Recht zu begründen, bereits voraus-
setzt und nur als die Einzelanwendung eines abstrakten Gesetzes über mög-
liche Rechtsentstehung überhaupt aufzutreten vermag. — Darum kann eine
erschöpfende Erklärung nur durch ein Zurückgehen auf die Frage geliefert
werden: Woran erkennt man überhaupt, ob etwas „Recht‘ ist? Indem
darauf mit dem soeben entwickelten formalen Merkmal geantwortet wird, so
ergibt sich auch die Lösung, daß in originärer Weise, vielleicht durch un-
mittelbaren Rechtsbruch, deshalb neues Recht entstehen kann, weil und so-
weit die neu gesetzte Regelung jenes formale Kriterium in sich trägt. Jene
außerhalb des seitherigen Rechtes entstandenen Normen stellen dann neues
Recht dar, sobald sie im Sinne eigener Unverletzbarkeit das seitherige Recht
beseitigen, sei es auch derartig, daß sie die bis dahin geltende Rechtsquelle im
Wege brutaler Gewalt gegen diese wegschaffen.
Zum anderen folgt aus dem Gesagten, daß eine Unverletzbarkeit des Rech-
tes bloß in begrenzter Weise behauptet werden kann. Sie ist nur vor-
handen während des Geltens der fraglichen Rechtsregel. Dagegen kann
diese letztere jederzeit abgeändert werden, sei es auf verfassungsmäßigem Wege
oder auch durch eine ursprüngliche Rechtssetzung. Nur dem willkürlichen
Brechen im einzelnen Falle widerstrebt die Unverletzbarkeit, — dahin also,
daß dieses Recht als solches bestehen bleibt und doch während seines
Geltens nicht verwirklicht, sondern gebeugt und gebrochen wird: gegen das
Abschaffen des vorhandenen Rechtes und sein Ersetzen durch neues
Recht, gleichviel in welchem Prozesse das vor sich geht, gewährt die Eigen-
schaft einer Regel als einer ‚rechtlichen‘ keine Sicherheit. Eine unbedingte
Heiligkeit und absolute Unabänderlichkeit kommt auch keineswegs der ‚‚Ver-
fassung‘' eines Gemeinwesens zu. Auch wenn diese, wie die unseres Reiches,
sich als eine ‚‚ewige‘' bezeichnet, so kann die Möglichkeit ihrer Abänderung und
Ersetzung durch neues Recht — bestimmt nach dem formalen Begriffe des
Rechtes überhaupt — ja niemals ausgeschlossen werden.
Mit diesen Erwägungen ist die logische Analyse des Rechtsbegriffes abge-
schlossen. Die formalen Bedingungen, unter denen dieser besteht, führen in
das Reich der Zwecke, danach zu dem Gebiete des verbindenden Wollens,
um darin in der Abgrenzung von einladender Aufforderung einerseits und
Begrenzte Un-
verletzbarkeit
des Rechtes,
Der Begrifi
des Rechtes.