II. Polizei und Kulturpflege. B. Kulturpflege. 437
Schule hat hier Mittel zur Hand, über welche die häusliche Erziehung gar nicht
verfügen kann. Bisher war der Unterricht in der Ethik fast ausschließlich
mit der Religionslehre verbunden. Dies Prinzip scheint der Gegenwart nicht
mehr recht genügen zu wollen. Wir begegnen Versuchen, den Religionsunter-
richt aus den Pflichtschulen ganz zu verbannen und den Religionsgesellschaften
zu überlassen (was dem Grundsatz der „Trennung von Kirche und Staat“
entspricht), dafür aber oder auch neben dem Religionsunterrichte in den Pflicht-
schulen, sowie in den Mittelschulen einen dogmenlosen Unterricht in der Ethik
einzuführen). Beachtenswert ist ferner die Bewegung, die in einzelnen Staa-
ten, z. B. in Dänemark, in der Schweiz und in den Niederlanden begonnen hat,
nicht bloß die Jugend, sondern die ganze Bevölkerung durch allerlei Mittel,
wie Veranstaltung von Festen, Reisen u. dgl. zum Patriotismus und zur Ethik
hinzuleiten. Diese Versuche einer sogenannten ‚staatsbürgerlichen Erziehung‘
verbinden sich mit den Volksbildungsbestrebungen, von denen noch zu sprechen
ist. Welche Erfolge die „staatsbürgerliche Erziehung‘, die auch gewisse Ge-
fahren in sich birgt, aufzuweisen haben wird, bleibt abzuwarten. Immer wird
jedenfalls der größte Teil der „Sitte‘‘ und der ‚„Sittlichkeit‘‘ ebenso wie die
Sprache ihren Gesetzen und ihrer eigenen Entwickelung überlassen bleiben.
So sehr, daß der hierdurch entstehende Gegensatz von Sitte und Recht ein
ebenso charakteristisches Merkmal unserer Kultur geworden ist, wie die Au-
tonomie der Religion. Außerordentlich wichtige gesellschaftliche Beziehungen
wie die Behandlung und Entlohnung der besitzlosen Klassen, insbesondere die
der häuslichen und landwirtschaftlichen Dienstboten werden auch heute noch
vorwiegend durch ungeschriebene, nichtsdestoweniger aber mit eiserner Kraft
wirkende Gesetze der Sitte geregelt, denen gegenüber die Grundvorstellung
des „Liberalismus‘‘, diese Dinge beruhten auf dem sogenannten ‚‚freien Ar-
beitsvertrage‘‘, wohl nur zum geringsten Teile richtig ist.
Doch darf man nicht übersehen, daß der Staat neben der Repression
durch Justiz und Polizei und neben der Jugenderziehung die Sitte in mannig-
faltig anderer Art beeinflußt. Der ganze Organismus des Staates selbst ist ja
ein Stück der Sitte und fügt sich ihr. Nicht selten im Widerspruch mit dem
Sinn, ja hie und da dem Wortlaut des Gesetzes. Man braucht dabei bloß an
die Art und Weise zu denken, wie die Freiheit bei der Ämterbesetzung durch
Ernennung oder Wahl oft zum Ausschluß ganzer Gesellschaftsklassen, Re-
ligionsgesellschaften oder Nationalitäten verwertet wird, obwohl die „Gleich-
heit‘‘ verfassungsmäßig anerkannt sein mag. Oder man denke an das Duell!
In dem Wechselspiele zwischen dem Reiz der Neuheit und dem Interesse an
dem Bestehenden wickelt sich die Geschichte der menschlichen Gesellschaft ab.
Die staatliche Verwaltung, die Polizei an der Spitze, nimmt jedoch natur-
gemäß zugunsten des Bestehenden Partei. Trotzdem führt manchmal das
Gesetz der Wechselwirkung auch zu einer Fortbildung der Sitte durch den
Staat. So ist die Freigebung der höheren Bildungsanstalten für das weibliche
Geschlecht und dessen Zulassung zu den politischen Rechten zwar stets eine
erzwungene Folge einer bereits eingetretenen Änderung der Sitte, aber der-