448 EDMUND BERNATZIK: Verwaltungsrecht.
und der Wohltätigkeit. Der Primärunterricht wurde meist unentgeltlich ge-
macht, hie und da selbst die Lehrmittel unentgeltlich beigestellt, man begann
sich etwas um die Erziehung, die Körperpflege der Kinder zu beküimmern,
Schulärzte anzustellen, Schulbäder, Schulbibliotheken einzuführen, ja selbst
dürftige Kinder zu verpflegen und zu bekleiden. Von hoher Wichtigkeit sind
ferner die Bestrebungen, den noch nicht schulpflichtigen Kindern das Eltern-
haus, das ihnen so häufig fehlt oder so gut wie fehlt, zu ersetzen. Dieser letztere
Umstand ist es, welcher die beabsichtigten Wirkungen der allgemeinen Schul-
pflicht bisher verhindert hat. Durch die strengere Durchführung des Prinzips
der Schulpflicht, wie Versäumnisstrafen für die Eltern, sind sie auch nicht zu
erzielen. Dies wird nur möglich, wenn es gelingt, die bisherige Teilnahme der
Kinder an der Berufsarbeit der Eltern, insbesondere zunächst die Fabriks-
arbeit der Frauen und Kinder, diesen Schandfleck des 19. Jahrhunderts, aus
der Welt zu schaffen. Das kann aber nur durch die Gewerbe- und Fabriks-
gesetzgebung geschehen und ist in den meisten Staaten bereits in Angriff ge-
nommen worden. Hier harrt des 20. Jahrhunderts eine gewaltige Aufgabe,
die es zu lösen gezwungen sein wird. Ebenso nötig ist aber die Fortbildung
der der Volksschule Entwachsenen, die beim Proletariat fast gar nicht, beim
kleinen Bürger und insbesondere beim Bauernstand, in Schulen nur in sehr
ungenügender Weise erfolgen kann. Diese Ergänzung nach oben hin bezweckt
das in den letzten Dezennien entstandene sog. „Volksbildungswesen‘“. Wir
begegnen hier einer Fülle von neuen Unterrichtsformen: einmalige Vorträge po-
pulärer Art, Vortragsreihen, die man auch bereits zu systematisch geordneten
Kursserien ausgestaltet und hie und da mit Prüfungen verbunden hat, Wander-
kurse auf dem flachen Land, Wanderbibliotheken u. a. Derlei Veranstaltungen
werden teils von freien Vereinen mit karitativem Charakter, teils von Interessen-
tenvereinen (hauptsächlich ‚Arbeiterbildungsvereinen‘'), teils von freien Lehrer-
oder Professorenvereinen (bisweilen nach dänischem Muster unter Heran-
ziehung von Studenten zum Lehramt) gehalten, teils sind sie nach englischem
Muster (,University-extension‘‘) den Universitäten angegliedert. Berechnet
sind sie nicht bloß für das Proletariat und die Arbeiterschaft, sondern auch
für den Mittelstand, insbesondere auch für die Volksschullehrer. Zum größten
Teil werden die Vorträge unentgeltlich gehalten; oft hat man jedoch ein Unter-
richtsgeld eingeführt, aus dem die Dozenten bezahlt werden. Auch Ansätze
zu einer Organisation der Hörerschaft und Anteilnahme derselben an der Lei-
tung sind vorhanden. Für die Lehrerschaft ist neuerdings auch die vielver-
sprechende Modalität von „Ferialkursen‘‘ ins Leben gerufen worden. Aus
diesen Dingen ziehen die Dozenten (abgesehen von ihrer eventuellen Hono-
rierung) große Vorteile, indem sie den Vortrag vor großen Auditorien üben,
und einen besonderen Nutzen zieht daraus das Volksschulwesen, dem die
Fortbildung der Lehrer, die vom Staate etwas vernachlässigt wird, auf diese
Weise zugute kommt. Auch ist die Bedeutung der Annäherung nicht zu unter-
schätzen, welche hier durch den gesellschaftlichen Verkehr der beiden feind-
lichen Klassen erfolgt. Allein das wichtigste ist doch für das Proletariat, den