Die Produktions-
förderung im
19. Jahrbundert.
456 EDMUND BERNATZIK: Verwaltungsrecht.
Mag sein, daß jene Denker die furchtbare Rückwirkung ihres Systems auf die
Lage der arbeitenden Klassen nicht in ihrer ganzen Tragweite ermaßen, obwohl
andere, wie insbesondere der geistreiche, aber rohe und frivole Mandeville
diese Rückwirkung in voller Klarheit und Nacktheit ausgesprochen und als
ein willkommenes ‚Naturgesetz‘‘ begrüßt hatten. Tatsächlich mußte das
Prinzip des Laissez-faire die Wirkung haben, die besitzlose Klasse inbegrifflich
ihrer Kinder und Frauen zum Ausbeutungsobjekt der Unternehmer zu machen,
welch letztere ihre ‚‚Freiheit‘‘ ganz anders verwerten konnten, als die von der
Hungerpeitsche getriebenen Proletarier. Die Staatsgewalt wurde zur Hüterin
der Unternehmerinteressen (,‚,Klassenstaat‘‘), der Proletarier aber zum ‚‚inneren
Feind‘‘, zum vaterlandslosen Gesellen. Denn auch von den politischen Rechten
schloß die neue Gesellschaftsordnung ihn aus; das Wahlrecht wurde ihm ent-
zogen und die Koalitionsverbote taten das übrige. Sie raubten Millionen die
Möglichkeit, durch Organisation ihre Lage aus eigener Kraft zu verbessern und
ihre Abhängigkeit zu vermindern. Ob es nun so klar ausgesprochen ward,
wie bei Mandeville und (oppositionell) bei gewissen Sozialisten wie Linguet u.a.
oder nur indirekt aus dem Verhalten der Regierungen und Polizeibehörden
geschlossen werden kann: die Wirtschaftspolitik des Liberalismus betrachtet
die Existenz einer großen Klasse von Menschen, die vom Hunger getrieben ihre
Arbeitskraft dem nächstbesten Bieter verkaufen müssen, als im öffentlichen
Interesse gelegen, weil sie der Industrie die nötigen ‚Hände‘ liefern. Nur
direkt vor dem Verhungern bewahrte der Staat durch Armenpflege und Arbeits-
haus, bestrafte aber dabei die Arbeitslosigkeit, von der man annahm, daß sie
stets eine verschuldete sei. So erklärt es sich, daß er weder für eine geregelte
Arbeitsvermittelung sorgte, noch andere ernsthafte Maßregeln ergriff, um der
Arbeitslosigkeit zu steuern. Als nun das Proletariat in großen blutigen Auf-
ständen (Chartistenbewegung, Julirevolution, Februarrevolution, Pariser Kom-
mune usw.) gegen diesen Zustand und seine grauenvollen Folgeerscheinungen,
die hier gar nicht erörtert werden sollen, revoltierte, begannen die Regierungen
einzulenken, und neben die Produktionsförderung, die trotz alles Liberalis-
mus nie verschwunden ist, trat die Sozialpolitik, das ist die Hebung der Lage
der arbeitenden Klassen durch Beseitigung von Gesetzen und Einrichtungen,
welche die Lage des Proletariats unter dem Scheine der „Gleichheit der Rechte‘
bedrückten und durch die Erschwerung der Bildung allzu großer wirtschaftlicher
Gegensätze. Als dritte Richtung der modernen Wirtschaftspolitik trat dazu
die Überleitung der privaten Güterproduktion in die öffentlichen Betriebe,
das ist die Eigenproduktion von Staat und Kommunen. Diese drei Richtungen
der Wirtschaftspolitik in ein harmonisches Verhältnis zu bringen, ist eine
schwierige Sache, weil die erste vielfach der zweiten widerspricht und die
dritte sowohl sozialpolitische Zwecke, als auch damit schwer vereinbare finan-
zielle Ziele verfolgen kann.
Wie nun im 19. Jahrhundert die Produktionsförderung immer groß-
zügigere Formen annimmt, wie der Staat Ackerbau, Handwerk, Gewerbe,
Bergbau, Industrie und Handel in mannigfaltiger Weise pflegt und unterstützt,