Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

II. Polizei und Kulturpflege. B. Kulturpflege. 457 
wie infolgedessen die Produktion und der Handel, der nationale, gleichwie der 
internationale ins ungemessene steigen, wie der Staat das Zollwesen refor- 
miert, den Bau von Verkehrswegen aller Art durch vielerlei Mittel, darunter 
insbesondere durch Darbietung seiner Gewalt zugunsten der Unternehmer 
(Expropriation) fördert, wie der Staat den Verkehr durch Post, Telegraph, 
Telephon in die feinsten Kanäle leitet und verästelt, wie er Maß und Gewicht 
und Geldwesen vereinheitlicht und reformiert, das Bankwesen regelt, den 
Kredit organisiert und allgemeiner zugänglich macht, wie der Staat endlich 
hinsichtlich einer Reihe von diesen Dingen durch Vereinbarungen mit anderen 
Staaten ein internationales Verwaltungswesen schafft, wie er die vom Polizei- 
staat niedergehaltenen Assoziationen von ihren Fesseln befreit, so daß sich 
Sparkassen, Genossenschaften, Aktiengesellschaften in großartiger Weise ent- 
falten können, das alles kann hier nur angedeutet, aber nicht weiter verfolgt 
werden. 
Im Gegensatz zu dieser gewaltigen Produktionsförderung ist die Die Soslalpalitik 
Sozialpolitik der Staaten im 19. Jahrhundert vorerst noch in recht beschei- (9.Jabrhunderte 
denen Dimensionen geblieben, wobei wir allerdings hervorheben müssen, daß 
die Kommunen, Städte und Provinzen in ihrem Bereiche sich der Sozialpolitik 
der Regierungen, wenn auch zögernd, anschlossen. Werfen wir einen kurzen 
Blick auf das, was wir „Sozialpolitik‘‘ nennen, so erblicken wir zunächst eine Sozialpolitik 
Reihe von Maßregeln, welche bestimmt sind, vorwiegend im Interesse der re 
industriellen und gewerblichen Arbeiterschaft die sogenannte ‚Freiheit des Proletariats. 
des Arbeitsvertrages‘' zu beschränken, als: Verbot des Trucksystemes, Ruhe- 
tag, Normalarbeitstag, Beschränkungen der Heimarbeit (Australien!), Redu- 
zierung der Frauen- und Kinderarbeit, Reformen des Polizeirechtes, Einfüh- 
rung diverser ‚Inspektorate‘‘, Förderung oder imperative Einführung der 
Versicherung gegen Unfall, Krankheit, Invalidität, Mutterschaft (Italien 1912), 
sowie eine Reihe von bisher allerdings wenig gelungenen Versuchen die Ver- 
sicherung auf die Arbeitslosigkeit auszudehnen (wohl das gewaltigste Problem 
von allen)! Man gelangte zu immer tiefer und tiefer schneidenden Eingriffen 
in die Bedingungen des Arbeitsvertrages, die hier nicht alle aufgezählt werden 
können, schließlich zur behördlichen Feststellung der Höhe des Arbeitslohnes 
oder auch zur obligatorischen Einführung von Minimallöhnen. Dies geschah 
zuerst in Australien und neuerdings für die Bergwerke sogar in England, der 
Heimat des Liberalismus, nachdem hier schon im Jahre 1881 ein neuartiger 
Eingriff in die Vertragsfreiheit durch behördliche Festsetzung der Pachtsummen 
in Irland vorausgegangen war. Aber auch in den Vereinigten Staaten, wo 
derlei Maßregeln noch vor 30 Jahren wohl niemand für möglich gehalten hätte, 
ist die Abkehr vom System der Handels- und Gewerbefreiheit eine geradezu 
stürmische. Man kann in der Tat sagen, daß von der sogenannten „Freiheit 
des Arbeitsvertrages‘' heute nicht mehr viel geblieben ist. Im übrigen beschränkte 
sich der Staat darauf, seine bisherige Feindseligkeit gegen die Selbsthilfe der 
Arbeiterschaft langsam und noch immer nicht ganz aufrichtig und vorbehalt- 
los aufzugeben, Koalitionen, Gewerkschaften, Konsumvereine, kollektive Ar-
	        
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