II. Polizei und Kulturpflege. B. Kulturpflege. 459
stimmungen‘ rechnet; daß Recht und Praxis auf diesem, sowie auf anderen
Gebieten des Sexualrechtes bisher ein System von Lüge, Heuchelei und Grau-
samkeit sind, das mußte, wie es scheint, den Machthabern unserer ‚Kultur‘
erst durch einige mutige Frauenvereine gesagt werden, deren Agitationen das
20. Jahrhundert gewiß große Erfolge bringen wird. Vorläufig ist als erfreu-
liches Ergebnis derselben ein internationaler Vertrag zur Bekämpfung des
Mädchenhandels zu verzeichnen. Wie vieles läßt sich in dieser Hinsicht mit
leichter Mühe noch tun, den guten Willen freilich vorausgesetzt!
Auch im Finanzwesen ist die Sozialpolitik von großem Einfluß geworden. Sozialpolitik im
Das neuere Steuerrecht legt nicht mehr, wie das früher üblich war, in Form bürgerlichen und
der indirekten Steuern die stärksten Lasten auf die schwächsten Schultern, Stratrecht.
sondern es stuft, freilich unter Beibehaltung der alten indirekten Steuern, die
Lasten sorgfältiger nach dem Maß der Leistungsfähigkeit ab und geht daher
zur Einkommen- und Vermögenssteuer und zum progressiven Steuerfuß
über. In ähnlichem Sinn hat man die Gebührentarife für die Benutzung der
öffentlichen Anstalten, Post, Eisenbahn, Schule, Krankenhaus usw. sehr herab-
gesetzt, ja vielfach stuft man die Gebühr nicht mehr bloß ab nach dem Maß
der Benutzung, sondern auch nach dem Vermögen des Benützenden. Vereinzelt
kommen schon Steuern, insbesondere Erbschaftssteuern, mit der ausgesproche-
nen Absicht vor, dadurch die Verteilung des Vermögens zu beeinflussen.
Im Zusammenhang damit ist man daran, den viel zu weit ausgedehnten Kreis
der erbberechtigten Personen zu beschränken. Sodann hat man seit etwa
zwanzig Jahren begonnen, hauptsächlich unter dem Einfluß Anton Menger’s
das bürgerliche Recht den Lebensbedingungen der besitzlosen Klassen mehr
anzupassen, als es bisher geschehen. Und in noch viel höherem Maße macht
sich diese Tendenz in den Strafrechtskodifikationen bemerkbar. Doch kann
hier auf diese Dinge nicht weiter eingegangen werden.
Auch die Kommunen folgen vielfach dieser Politik in ihrem Bereich, mit
zum Teil eigentümlichen Mitteln (Wertzuwachssteuer).
Die dritte ebenso wichtige Richtung der Wirtschaftspolitik ist die schon Verstaatlichung
jetzt ins Großartige gediehene Verstaatlichung bzw. Kommunalisierung von \sadtlichung
Betrieben, teils mit, teils ohne Monopolisierung. Diese mit dem System des der Betriebe.
Liberalismus wohl in allerschärfstem Gegensatze stehende Richtung knüpfte
an einzelne noch aus früherer Zeit übriggebliebene Regalien und Monopole an,
wie das Post-, Bergwerks-, Salz- und Tabakmonopol, die ursprünglich zu
rein finanziellen Zwecken eingeführt worden waren. Ihnen fügten sich
der staatliche Betrieb der Eisenbahnen und anderer Verkehrswege an; Brannt-
wein-, Zündhölzchen-Monopole wurden in mehreren Staaten geschaffen, Staats-
banken mit Monopolisierung des Banknotenwesens traten ins Leben, auch
sonstige Zweige des Bankwesens (Postsparkasse), selbst einzelne Gewerbs-
zweige wie Druckereien, Pfandleihanstalten begann der Staat in die Hand zu
nehmen. Dazu ist dann unter Vorantritt Deutschlands die staatliche Arbeiter-
versicherung getreten. Neuestens, 1912, ist Italien sogar zur Monopolisierung
des gesamten Versicherungswesens fortgeschritten. Bemerkenswert ist auch