Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

Allgemeine 
Anschauung. 
VÖLKERRECHT. 
VON 
FERDINAND VON MARTITZ. 
Einleitung. Rechtsregeln, welche von einem Volke im Verkehr mit 
Fremden in Anwendung gebracht werden, können auf die aus dem Altertum 
überkommene, von allen Kultursprachen angenommene Bezeichnung als Völker- 
recht erst dann Anspruch machen, wenn eine Mehrheit von Völkern in ihnen 
den Ausdruck einer sie gegenseitig bindenden rechtlichen Ordnung anerkennt. 
Inhalt, Umfang und Geltungsbereich einer solchen Ordnung mag verschieden 
sein. Die Geschichte hat mannigfache weitere und engere Verbände völker- 
rechtlicher Art sich bilden und sich lösen sehen. Von ihnen aber kommt keiner 
an allgemeiner Bedeutung für die Geschichte der Menschheit, an Festigkeit 
der auch nach heftigen Erschütterungen sich immer wieder zusammenfügenden 
Grundlagen, an verhältnismäßiger Reife der juristischen Durchbildung, an 
äußerer und innerer Entwickelungsfähigkeit derjenigen Völkergemeinschaft 
gleich, welche in Europa seit Ausgang des Mittelalters auf der Grundlage christ- 
licher Weltanschauung und Gesittung erwachsen ist. Das heute in Geltung 
stehende Recht dieser Gemeinschaft gilt uns schlechtweg als das Völkerrecht, 
das internationale Recht nach einer von der englischen und romanischen Rechts- 
sprache bevorzugten Redeweise. Von Hause aus ist es eine europäische Rechts- 
ordnung gewesen, das öffentliche Recht Europas, wie man überschwenglich 
sagte. Aber mit Ausbreitung europäischer Zivilisation hat es den ursprüng- 
lichen Geltungsbereich längst überschritten. Durch die überseeische Koloni- 
sation wurde es in die Neue Welt getragen, und nach Abtrennung der ameri- 
kanischen Kolonialreiche von ihren europäischen Mutterländern hat es in 
Amerika eine zweite Heimat gefunden. In steter Erweiterung seiner räumlichen 
Geltung begriffen, ist es gegenwärtig ein Weltrecht geworden. 
I. Der völkerrechtliche Verband. 
I. Geltungsgebiet des Völkerrechts. In dieser Gestalt ist das Völker- 
recht die Rechtsordnung einer Staatengemeinschaft. Nur insoweit steht die 
Menschheit unter seinen Normen, als sie bereits eine politische Organisation in 
der Form des Staates, im völkerrechtlichen Sinne, gefunden und damit die un- 
erläßliche Grundlage für eine spezifische Kultur geschaffen hat. Naturvölker 
gehören dem internationalen Verbande nicht an. Aus den Regeln, die für den
	        
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