Der äußerste
Orient.
472 FERDINAND VON MARTITZ: Völkerrecht.
ten, sondern geduldeten, weniger durch eigene Kraft als durch die gegenseitige
Eifersucht der Mächte aufrechterhaltenen und immer fremdartig gebliebenen
Gliede der europäischen Staatenfamilie. Sie ist in dieselbe auch formell auf-
genommen worden, zunächst durch den von ihr mit den fünf Mächten über die
Schließung der beiden Meerengen für fremde Kriegsschiffe am 13. Juli 1841
abgeschlossenen Kollektivvertrag, sodann, in einzigartigem Vorgang, durch so-
lenne Erklärung des Pariser Friedens vom 30. März 1856. Eine völkerrechtliche
Neuordnung der gesamteuropäischen Interessen im nahen Orient brachte der
Londoner Pontusvertrag vom 13. März 1871 und der Berliner Vertrag vom
13. Juli 1878. Die im Laufe des 19. Jahrhunderts von der Ottomanischen Pforte
geführten Kriege haben eine fortschreitende Verminderung ihres europäischen
Territorialbestandes herbeigeführt. An Stelle ihrer Rajahvölker sind neue christ-
liche, aufstrebende Nationalstaaten getreten. — Für den zweiten mohammeda-
nischen, freilich schiitischen Großstaat, das Reich des persischen Schahenschah,
gehen vertragsmäßige Verkehrsbeziehungen mit den europäischen Westmächten
bis in den Anfang des 18. Jahrhunderts zurück. An den in den Jahren 1708/15
mit der Krone Frankreichs aufgerichteten Freundschafts- und Handelsvertrag
schlossen sich Verträge mit Großbritannien und mit dem allzeit rivalisierenden
russischen Nachbar. Der persisch-russische Friedensvertrag von Turkmantschai
vom 22. Februar 1828 wurde normativ für die zahlreichen Konventionen mit den
anderen Mächten, durch welche sich die Anerkennung Persiens als eines Mit-
gliedes des völkerrechtlichen Verbandes stillschweigend vollzogen hat. Eine
verhängnisvolle Änderung in der völkerrechtlichen Stellung des unglücklichen
Landes ist neuerdings eingetreten mit der russisch-britischen Vereinbarung
vom 3I. August 1907, welche unter formeller Anerkennung seiner Integrität
und Unabhängigkeit eine geographische Abgrenzung politischer und wirtschaft-
licher Einflußsphären innerhalbseines Territoriums zugunsten derbeiden Nachbar-
mächte vorgenommen hat. — Endlich für das islamitische Reich des äußersten
Westens, das Sultanat Marokko, hat erst ein auf der Konferenz der Mächte zu
Madrid am 3. Juli 1880 aufgerichteter Kollektivvertrag die wichtigsten Be-
ziehungen des noch unerschlossenen Landes zu den Vertragsstaaten, denen die
Behandlung auf dem Fuße der Meistbegünstigung zugesagt wurde, speziali-
sierend geregelt. Durch die auf der internationalen Konferenz zu Algesiras von
dreizehn Mächten gezeichnete Generalakte vom 7. April 1906 wurden die hiefür
als unerläßlich betrachteten inneren Reformen festgestellt und der Scherifischen
Regierung auferlegt. Doch hat nunmehr der französisch-marokkanische Pro-
tektoratsvertrag vom 30. März 1912 der völkerrechtlichen Selbständigkeit des
Landes ein Ende gemacht, aber unter Aufrechterhaltung der in den früheren
Verträgen vorgesehenen Handelsfreiheit (deutsch-französischer Vertrag vom
4. November 1911).
Anders als die vorgenannten Staaten haben die beiden großen, im Besitze
einer alten und abgeschlossenen fremdartigen Kultur befindlichen Reiche des
östlichen Asiens den Eintritt in die Rechtsgemeinschaft der abendländischen
Welt genommen. Auch hier ist es freilich eine gemeinsame Aktion der Mächte