Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

Das 
Staatensystem. 
Posivität des 
Völkerrechts. 
474 FERDINAND VON MARTITZ: Völkerrecht. 
geführte große Kriege, nicht minder die mit Großbritannien am 30. Januar 1902 
geschlossene, am 12. August 1905 erneuerte Defensivallianz, haben das neue 
Mitglied tatsächlich zur Vormacht des Ostens gemacht. 
In planmäßiger Weiterführung der Ostasien gegenüber eingeschlagenen 
Politik hat die von vierzehn Regierungen gezeichnete Generalakte der Berliner 
Konferenz vom 26. Febraur 1885 den ganzen afrikanischen Kontinent einer 
territorialen Aufteilung in Staatsgebiete, Kolonialgebiete und Interessensphären 
entgegengeführt. Nicht minder ist Ozeanien Kolonialbesitz geworden. 
Das angehende 20. Jahrhundert zeigt die gesamte Ökumene, mit gering- 
fügigen Ausnahmen, dem völkerrechtlichen Verbande territorial eingegliedert. 
In ihm erscheinen die Staaten, wie verschieden auch nach Größe, Lage, Rasse, 
Religion, Kultur, Verfassung gebildet, als Rechtssubjekte. In ihrem gegen- 
seitigen Verkehr bezeichnen sie sich als Mächte und erklären sich als einander 
befreundet. Ihrer Individualität geben sie Ausdruck durch Namen, Titel, 
Flagge, Wappen, Rangvorzüge. Ihre Zahl unterliegt steten Wandlungen. G.F. 
v. Martens glaubte sie einst (Ebauche d’un cours politique et diplomatique, 
Gott. 1796) auf etwa 500 veranschlagen zu sollen, wobei er freilich auch die 
Etats mi-souverains mitzählte. Gegenwärtig wird sie, sofern man, wie sich ge- 
bührt, auch die kleinen und kleinsten berücksichtigt und die Bundesstaaten, 
die Realunionen, die Hauptländer mit ihren Nebenländern, ihren Vasallen- 
staaten, Protektoraten, Kolonialreichen als Einheiten zählt, auf wenig über 
50 in ständigem amtlichen Verkehr stehende Mächte zu berechnen sein, darunter 
24 europäische und 21 amerikanische. Die Gemeinschaft großer politischer, 
wirtschaftlicher, sozialer Interessen hat ihre Politik zu einer Weltpolitik zu- 
sammenfließen lassen, die nicht allein in der Annahme gemeinsamer Maximen 
zum Ausdruck zu kommen pflegt, sondern auch immer aufs neue eine mannig- 
fache Gruppierung innerhalb der Staatengesellschaft entstehen läßt. Ins- 
besondere hat sich eine Minderzahl von führenden Mächten, für Europa der 
Großmächte, seit Entwickelung wirtschaftlicher Weltinteressen der Weltmächte, 
in allgemeiner Anerkennung über die Gesamtheit der übrigen herausgehoben. 
Damit ist dem völkerrechtlichen Verbande tatsächlich eine aristokratische 
Formation aufgeprägt worden. 
2. Der juristische Charakter des Völkerrechts. Die völker- 
rechtliche Gemeinschaft ist ein Rechtszustand bloßer Nebenordnung. Die Zu- 
gehörigkeit des Einzelstaates zu dem allgemeinen Staatenverbande unterwirft 
ihn zwar einem im Völkerrecht sich äußernden Gesamtwillen. Sein Verhalten 
unterliegt einer als rechtlicher Zwang empfundenen Notwendigkeit, und nur 
innerhalb der damit gegebenen Schranken findet seine Souveränität Spiel- 
raum sich frei zu betätigen. Aber eine Organisation dieses Rechtszwanges zu 
einer zentralen über der Staatengesellschaft waltenden höchsten persönlichen 
Willensmacht ist nicht vorhanden. Wohl fehlt es nicht an vielverheißenden 
Ansätzen zu solcher Organisation in engeren, mitgliederreichen Verbänden, 
für die Pflege spezieller Interessen des friedlichen und auch des feindlichen
	        
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