476 FERDINAND VON MARTITZ: Völkerrecht.
sie sind genötigt, auch die Formen und Bedingungen für ein im voraus be-
rechenbares Zusammenwirken herzustellen und zu sichern. Besteht nun aber
zwischen ihnen eine beständige, nicht aufhebbare Verkehrsgemeinschaft, so
ist damit das Anerkenntnis einer äußeren Ordnung gegeben, welche gegenüber
Das Völkerrecht staatlicher Einzelfreiheit das Gemeinschaftsinteresse zu rechtlicher Wirksam-
Yerkebrsrecht: Keit bringt. Eine solche Ordnung ist das Völkerrecht. Indem die Staaten ge-
wohnt sind, ihren gegenseitigen Verkehr auf den von ihm hergestellten Grund-
lagen zu führen, sind sie von dem Bewußtsein erfüllt, die Glieder einer Rechts-
gemeinschaft zu sein, die von dem Wollen des einzelnen Landes unabhängig
ist. Sie folgen in ihrem Verhalten zueinander einer rechtlichen und keiner ande-
ren Notwendigkeit.
echt Sonach trägt das Völkerrecht, wie jedes Recht, den juristischen Charakter
ordnung. einer Friedensordnung. Es gewährt jedem Genossen, auch dem kleinsten Lande,
in gleichem Maße und in gleicher Kraft Rechtsschutz für seinen Bestand, seine
Angehörigen, sein Machtgebiet, seine Freiheit. Jedes Unternehmen einer Macht
den anderen Staaten durch Anmaßung einer Universalherrschaft zu Lande oder
auf dem Meere Gesetze vorzuschreiben, wäre ein Bruch des allgemeinen Friedens;
jeder Versuch, eine fremde Regierung zu gerichtlicher Verantwortung für rechts-
geschäftliches oder deliktisches Handeln vorzuladen, eine rechtswidrige An-
maßung. Nur freilich das Völkerrecht ist eine unentwickelte Friedensordnung.
Denn es hat weder eine Reaktion der Gesamtheit gegen den Friedensstörer
noch Anstalten für die Sicherung des Rechtsschutzes ausgebildet. Und für den
verletzten Staat gibt es keine andere Möglichkeit, seinen Anspruch dem Wider-
strebenden gegenüber zwangsweise durchzusetzen als die Befugnis, ihm den Frie-
den zu kündigen und sich Genugtuung auf dem Wege der Eigenmacht zu ver-
schaffen. Es fehlt die Organisation des Rechtszwanges, die richterliche Fest-
stellung begangenen Unrechts und seiner Rechtsfolgen, für deren Mangel ein
vertragsmäßiges Schiedsgerichtsverfahren, und würde es selbst von einem
Staatenverbande für seine Mitglieder kunstvoll organisiert, nur ein schwaches
Surrogat zu schaffen vermag. Ihrer Natur nach wird die Friedensordnung des
Völkerrechts niemals diejenige innere Vollendung erreichen können, mit welcher
der Einzelstaat seinen Landfrieden und sein Landrecht und seine Rechtsschutz-
anstalten auszustatten vermag. Dem Völkerrecht ist es beschieden, eine ju-
ristisch unvollkommene Rechtsordnung zu bleiben. Aber es ist positives Recht,
nicht Naturrecht, nicht Staatenmoral und nicht Politik. Wissenschaftlich kann
es nur mit der Methode und den Mitteln der Jurisprudenz erfaßt werden. Dem
privaten und öffentlichen Recht der Einzelstaaten tritt es als ein einzigartiges,
die menschliche Gesellschaft auch über den Staat hinaus vereinigendes recht-
liches Band gegenüber.
Die Eigenmacht. Jedoch auch die Eigenmacht, die das Völkerrecht nicht wirksam zu ver-
bieten vermag, und auf die es als äußerstes Mittel verweist, ist in Art und Ver-
fahren unter Schranken gestellt, die einen wichtigen Teil seiner Ordnung bilden
und zu deren ältesten Stücken gehören. Mannigfache Formen und Stufen sind
hierfür ausgebildet und in reicher Gestaltung begriffen. Es gibt keinen Teil