VI. Die Rechtsverhältnisse des Staatenverkehrs. ı. Die Rechtsgeschäfte. soI
denen er zu Stande kam und die nach der erweislichen Absicht des versprechen-
den Teiles seine Voraussetzung bildeten, sich so geändert haben, daß diesem
die Befolgung nicht länger zugemutet werden kann. ‚Vor allen Traktaten
haben die Nationen ihre Rechte‘ (Preußisches Kriegsmanifest vom 9. Oktober
1806). Nur in solchem Sinne ist die Klausel Rebus sic stantibus den völker-
rechtlichen Stipulationen immanent. Ob der Fall vorliegt, darüber hat sich die
verpflichtete Regierung schlüssig zu machen. Wird sein Eintritt auf der Gegen-
seite bestritten, so liegt darin die Behauptung einer Vertragsverletzung. Eine
solche ergibt den zweiten allgemeinen Kündigungsgrund. Jeder Kontrahent
hat die Befugnis, von Verträgen, deren Erfüllung von dem Vertragsgegner
widerrechtlich verweigert wird, auch seinerseits zurückzutreten; selbst dann,
wenn die Erfüllung nur für einen Vertragspunkt ausbleiben sollte. Ein solches
Kündigungrecht ist bei dem Mangel supranationaler Gerichtsbarkeit die wich-
tigste und die eindringlichste Garantie, die das völkerrechtliche Vertragsrecht
aufzuweisen hat (Erich Kaufmann, Wesen des Völkerrechts ıgıı, S. 219).
Um Streitigkeiten über den Tatbestand einer Vertragsverletzung und über Recht-
mäßigkeit einer Vertragskündigung bereits vorbeugend zu begegnen, haben die
neuesten Konventionen, zumal die großen rechtsetzenden Kollektivverträge
mancherlei Wege eingeschlagen. Sie treffen Vorbehalte, wonach die über-
nommene Pflicht unbeschadet der Geltung des Vertrages im Einzelfalle zessieren
soll, wenn vitale Interessen oder die Ehre der angesprochenen Regierung ins
Spiel kommen; oder wonach sie nur insofern gelten soll ‚als die Umstände es
gestatten‘‘. Vor allem pflegen sie jedem Vertragsgenossen von vorneherein ein
unbedingtes, wenn auch befristetes Kündigungsrecht zuzusprechen. An dritter
Stelle endlich steht der Krieg als Aufhebungsgrund der Staatsverträge. Es ist
heutzutage anerkannten Rechtens, daß obligatorische Verpflichtungen der
Staaten mit Abbruch des Friedensstandes zwischen ihnen für sie selbst gegen-
seitig, auch ohne ausdrückliche Erklärung, hinfällig werden; sie müßten denn
gerade auf den Krieg abgestellt sein. Um sie wieder in Kraft zu setzen, bedarf
es demnach einer Erneuerung (Memorandum der Großmächte an die Otto-
manische Pforte vom 25. Mai 1897 betreffend die türkisch-griechischen Ver-
träge: „Les Gouvernements sont d’avis que, si les Traites existants entre
deux belligerents sont, en principe, annull&es par l’etat de guerre et demandent
a etre renouveles‘‘, usw.).
Jedes völkerrechtliche Abkommen verpflichtet zu vollständiger, redlicher Pie Rechtskraft
Erfüllung dessen, was versprochen und der übereinstimmenden Absicht der Stantsverträge
Paziszenten gemäß ist; Staatsverträge gelten als bonae fidei contractus. Ein
Vertragsbruch gibt der Gegenpartei einen Rechtsanspruch auf Abstellung des
vertragswidrigen Verhaltens und auf Ersatz des dadurch erlittenen Schadens.
Und zwar hat der den Vertrag verletzende Staat ihr das volle Interesse zu er-
setzen, das sie an Erfüllung der Vertragsstipulationen zu nehmen hat, insoweit
der Schaden durch die Rechtsverletzung nicht bloß veranlaßt, sondern ver-
ursacht worden ist, und insoweit er sich in Geld veranschlagen läßt. Für die
Bewertung des Schadens greifen die Grundsätze über Haftung aus Völkerrechts-