Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

Die Neutralitäts- 
pflichten. 
526 FERDINAND VON MARTITZ: Völkerrecht. 
5. Die Neutralität. Durch den Ausbruch des Krieges wird nur für die 
kämpfenden Mächte der Friedenszustand aufgehoben. Alle anderen Staaten 
verharren in demselben, sowohl unter sich als auch mit jenen. Sie fahren fort 
ihnen befreundet zu sein. Da aber der Kriegszustand ein rechtlich zulässiges 
Streitverhältnis ist, so ergibt sich für sie zwar die Berechtigung demselben 
fremd zu bleiben, aber nur unter der Bedingung, sich solcher Handlungen zu 
enthalten, die der einen Partei tatsächlich nachteilig sein und damit der an- 
deren Vorschub leisten könnten. Sie haben also Schranken ihrer Verkehrsfreiheit 
mit jeder von beiden anzuerkennen, und der Kriegführende ist berechtigt, deren 
Überschreitung zugunsten des Gegners als eine ihm zugefügte Rechtsverletzung 
zu behandeln. Die Summe der sich hieraus ergebenden Rechtsbeziehungen 
faßt das Völkerrecht als Neutralität zusammen. Sie ist ein mit jedem Kriegs- 
zustand für die nichtbeteiligten Mächte rechtsnotwendig eintretendes Verhält- 
nis, das einer Erklärung durch die neutrale Regierung an sich nicht bedarf. 
In dieser Stellung bildet das Recht der Neutralität, dem antiken wie dem 
früheren Rechte des Mittelalters unbekannt, die Signatur des modernen Völker- 
rechts, als der Rechtsordnung einer Friedensgemeinschaft, freilich aber auch 
zugleich noch immer ihren schwächsten Punkt. Die Erfahrung zeigt, daß es 
verhältnismäßig leichter ist, die gegenseitige Stellung der Kriegsgegner zu 
ordnen, als ihre gemeinsamen Interessen denen der Neutralen gegenüber ge- 
recht abwägend zu begrenzen und auszugleichen. Mit zunehmender Strenge 
sieht der internationale Verband das Wesen der Neutralität nicht in bloßer 
farbloser Unparteilichkeit beim Leisten und Gewähren an die eine und an die 
andere Streitmacht, nicht in bloß formaler Gleichmäßigkeit bei ihrer Behand- 
lung oder Bereitwilligkeit dazu. Vielmehr fordert sie die objektive Nicht- 
beteiligung an einem eingetretenen Kriegszustande. Rechtliche Gradationen. 
(als laxe, unvollständige) verträgt sie heutzutage nicht mehr; und zum Gegen- 
stand von Transaktionen oder Konzessionen der Interessenten kann sie nicht 
gemacht werden. Sie ist zwingendes Recht. Wie aber der Kriegszustand das 
ganze Land erfaßt, so ergreift auch das Neutralitätsverhältnis alle Gebietsteile 
und alle Staatsangehörigen. Diese sind neutrale Personen, HC V A.ı6, und 
ihr Vermögen ist neutrales Gut. Einerseits stehen sie unter dem Schutze der 
Neutralität, den ihre Regierung handhabt. Anderseits bleiben sie, gleichviel 
wo sie sich befinden, den Neutralitätspflichten ihres Landes unterworfen, und 
gegen die Rechtsfolgen ihres unneutralen Verhaltens werden sie von ihrem 
Staate nicht vertreten. Der Kriegsgegner schreitet gegen die von ihnen aus- 
gehende Schädigung seiner Kriegführung, auch die ohne animus hostilis er- 
folgende, ein, teils strafrechtlich (Kriegsverrat), teils durch repressive und prä- 
ventive Zwangsmaßregeln, deren Art, Maß, Verfahren den wichtigsten, aber 
auch schwierigsten Punkt im System des Neutralitätsrechts bildet. Dieses 
System trägt heutzutage folgende, überaus komplizierte Gestalt. 
I. Oberste Pflicht der neutralen Regierung ist es, sich jeder Kriegshilfe 
zu enthalten. Die Verletzung dieser weittragenden Pflicht ist Neutralitäts- 
bruch und ein völkerrechtliches Delikt. Sie gibt nach Schwere des Falles dem
	        
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