548 FERDINAND VON MARTITZ: Völkerrecht.
Schluß. Damit fügen sich die Linien derjenigen Rechtsordnung, die die
moderne Welt als ihr Völkerrecht begreift, zu einem wohlabgerundeten Ganzen
zusammen. Erwachsen ist es ursprünglich aus dem Kriegszustande, und noch
heute steht und fällt es mit dem Kriege; und der Gedanke, daß mit den
Mitteln und Formen, die es gewährt, die Abschaffung des Krieges im Wege
Rechtens durchgeführt oder auch nur vorbereitet werden, daß das Völkerrecht
sich selbst aus seinen Angeln heben könnte, ist nichts anderes als ein Hirn-
gespinst. Aber von dem Phänomen des Krieges ausgehend, hat das Völker-
recht in zunehmender Klärung und Entfaltung das Recht des Friedenszustandes
erfaßt, den es als die normale Ordnung der Staatenwelt anerkennt und fordert.
Die Axiome, die es einstmals hierbei zugrunde legte: die Souveränität des
Einzelstaates, seine Territorialität, die rechtliche Bindekraft des Staatsver-
trages, der Gesandtenschutz, die Freiheit des Meeres, das Recht der Neutra-
lität, waren, einfach, gering. an Zahl und disparat. Erst der hinzutretende
Gedanke, daß die Staaten nicht isoliert nebeneinander bestehen, daß sie die
Glieder einer weltumfassenden Interessengemeinschaft bilden, hat aus jenen
dürftigen und zerstreuten Sätzen ein System entstehen lassen, welches zu
einem unübersehbaren Reichtum von Rechtsnormen entwickelt, fähig, jede
neue Erscheinung des internationalen Verkehrs zu umspannen, tief in das in-
nere Recht aller Völker eingreifend, die Rechtswissenschaft in allen ihren Teilen
befruchtend, sich als den umfassendsten Ausdruck der Kultur der Gegenwart
auf dem Gebiete des Rechtslebens betätigt. Wie wechselnd auch die Wandlungen
sein mögen, welche die Zukunft unserem Staatensystem bringen wird, seine
völkerrechtlichen Grundlagen sind bis auf unabsehbare Zeiten fest, unver-
brüchlich, unwandelbar. Es gilt auf ihnen weiterzubauen. Ohne jede Ver-
bürgung durch eine politische Machtorganisation erscheint die einzigartige, so
ganz auf sich selbst gestellte und in sich selbst ruhende Ordnung des Völker-
rechts als der höchste Triumph, den die Idee des Rechtes auf Erden gefeiert hat.