„Poltik der
Gewalt.‘
42 RUDOLF STAMMLER: Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft.
wird; daß dem einen Moralsystem der Vorzug vor einem zweiten einzuräumen
ist; und daß es auch unrichtige Moral gibt. Nur auf solche relativ allge-
meinen Lehren, die im voraus bereitgestellt sind, kann sich die selbstverständ-
liche Beobachtung beziehen, daß sie bei verschiedenen Menschen und Völkern
ungleich auftreten, und daß sie dem Wechsel in der Zeit unterworfen sind:
aber der Begriff und die Idee des sittlichen Wollens stehen ein für allemal
fest. Sie sind keiner Veränderung und überhaupt keiner Bedingtheit unter-
worfen. Gleichviel, ob und wann jemand sie einsieht, so stehen sie dem kritisch
geläuterten Bewußtsein als reine Formen des Denkens und Urteilens fest
und erheben also mit Fug den Anspruch unbedingter Gültigkeit.
III. Richtiges Recht. Das gesetzte Recht (D. ı) unterliegt, wie
jedes menschliche Wollen, gleichfalls der kritischen Frage: ob es in seinem be-
sonderen Auftreten grundsätzlich richtig ist. Es soll ein bestimmtes An-
ordnen in seinem Inhalte nicht nur ‚Recht‘, sondern auch ‚‚gerecht‘ sein,
also nicht nur dem Begriffe des Rechtes entsprechen, sondern auch von der
Idee des Rechtes geleitet sein. Sonach ist es notwendig, sich darüber klar zu
werden, unter welchen allgemeingültigen Bedingungen man die innere Be-
rechtigung eines gegebenen rechtlichen Wollens behaupten kann.
Als einen so gemeinten Versuch kann man die Ausführung Jherings er-
achten, der als letzten Gedanken des Rechtes angibt, daß es die „Politik der
Gewalt‘‘ bedeute. Er will dies aus einer Schilderung des Herganges folgern,
in dem das Recht aus der Gewalt entstanden sei und nachher eine ‚höhere‘
Entwickelungsphase derselben darstelle. Dabei polemisiert er gegen eine An-
sicht, welche glaube, daß das Recht ‚im Himmel‘, die Gewalt ‚als böser Bube
auf Erden geboren‘‘ werde. Statt dessen sei das Recht nichts anderes, als ‚‚der
Niederschlag der Erfahrung in bezug auf die richtige Verwendung der Ge-
walt‘‘. — Aber dieses haftet an einer genetischen Art der Erörterung, die
in einer beschreibenden Betrachtung wirklicher Vorgänge sich erschöpft und
zu der systematischen Frage nach den notwendigen Bedingungen einer
letzten formalen Methode gar nicht schreitet. Und doch wird von jenem
Schriftsteller das Recht einerseits eine ‚Theorie des rechten Weges‘‘' genannt,
zum anderen davon gesagt, daß nicht alles Recht diese gute Eigenschaft be-
sitze; es gibt auch sachlich nicht gerechtfertigtes Recht, und es bleibt
sonach der Zweifel offen, was man sich darunter zu denken habe, und wie
diese Eigenschaft und ihr Gegenteil im gegebenen Falle darzutun sein werden.
Hier ist unwillkürlich ein einheitlicher Gesichtspunkt bereits an-
genommen, in dessen Richtlinie der bedingte Inhalt eines beliebigen Rechtes
zu prüfen ist. Wenn es bloß dem persönlichen Streben des gerade Mächtigen
zu folgen hätte, so wäre eine rechte Verwendung der Gewalt nicht gegeben.
Der allgemein gültige Grundgedanke des Rechtes muß selbstverständlich
von allem besonderen Inhalte eines konkreten sozialen Wollens unabhängig
sein. Die Aufgabe, ihn durch kritische Besinnung klarzustellen, ist aber mit
dem Begriffe des Rechtes — der doch noch niemals von irgendeiner Seite als