Full text: Die Kultur der Gegenwart. Band 2.8. Systematische Rechtswissenschaft. (8)

„Sozial-ethische 
Normen.‘ 
„Höhere und 
niedere 
Interessen.‘' 
46 RUDOLF STAMMLER: Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschait. 
teile, welche eine ‚„‚herrschende Anschauung‘ gefällt hat, als schlechthin maß- 
geblich sich beruft, so ist das nichts anderes, wie ein sonstiger Kultus von 
Präjudizien eines anderen Gerichtshofes. Ob die präjudiziell abgegebene Ent- 
scheidung in Wahrheit richtig ist, steht dahin. Nicht sie, die inhaltlich be- 
reits abgegebene Entscheidung, ist also der letzte hier mögliche Gedanke, 
sondern das sie kritisch prüfende Urteil, das nach fester Methode gefällt 
sein will. 
Eine besondere Wendung hat das besprochene Vorgehen in dem Hinweis 
auf ‚„sozial-ethische Normen‘, vereinzelt auch ‚„Kulturnormen‘‘ genannt, er- 
halten. Man hat sich darunter gewisse normierende Sätze vorgestellt, die außer- 
halb des Rechtes und hinter und über diesem stehen; sie sollen dem gesetzten 
Rechte die richtige Richtung geben. — Wie jedoch ein solcher Kodex idealer 
Normen mit konkret ausgeführtem Inhalt lauten würde, bleibt zunächst un- 
sicher, da sich zwar sehr häufig die Berufung auf ihn findet, aber noch niemals 
seine Ausarbeitung unternommen worden ist. Und es würde zweifellos eine 
unklare Vorstellung sein, wenn man meinen wollte: daß „sozial-ethische‘“ 
Normen ein drittes, mystisches ‚„Etwas‘‘ neben den sozialen Normen wären, 
die es überhaupt nur begründet geben kann, den rechtlichen und den kon- 
ventionalen. Entscheidend aber spricht gegen einen jeden solchen Versuch 
dieses, daß der methodische Gedanke von „Gesetzmäßigkeit‘‘ und „Richtig- 
keit‘‘ nicht durch eine Summe von material gefüllten Sondersätzen 
wiedergegeben werden kann. Alle die letzteren müssen der Zahl nach begrenzt 
und der Art nach bedingt sein. Sie können niemals mit Fug den Anspruch 
erheben, den unbedingten Maßstab für kritisch erwogenes, geschicht- 
liches Recht abzugeben, sondern müssen sich selbst gefallen lassen, nach all- 
gemeingültiger, formaler Weise wiederum gerichtet und bestimmt zu 
werden. 
Endlich zeigt sich eine gleichartige Verwechselung in dem häufigen Ver- 
suche, die ‚„Güter‘‘ oder die ‚„Interessen‘‘ in „höhere‘‘ und in ‚niedere‘‘ einzu- 
teilen und dieses praktisch für die Aufgabe grundsätzlich richtiger Rechts- 
entscheidung zu verwerten. Dann kann man den Satz finden ‚höheren Inter- 
essen haben minderwertige zu weichen‘‘ oder ‚‚die Pflege der idealen Güter ver- 
dient den Vorzug vor der der materialen‘‘ und ähnliches. Aber die Unterschei- 
dung bestimmter Interessen und Bestrebungen in „geringere‘‘ und in „wert- 
vollere‘' setzt die formale Möglichkeit der Einteilung als festen Halt doch 
wieder voraus, und so bleibt die Klarstellung jener formalen Möglichkeit durch 
die von ihr gemachte besondere Anwendung ganz unerledigt. Es sind also in 
diesem Zusammenhang nicht von vornherein, in einer angeblich logisch ur- 
sprünglichen Weise, die verschiedenen menschlichen Zwecke nach der Be- 
sonderheit ihres Inhaltes in einer allgemeingültigen Rangordnung auf- 
zustellen, so daß die oben stehenden die unbedingt zu verfolgenden wären, 
während die in der Reihe nachstehenden an jenen ersten gemessen wer- 
den könnten und im Kollisionsfall vor ihnen zurückzutreten hätten. Vielmehr 
vermag jeder inhaltlich begrenzte Zweck in zweierlei formaler Weise
	        
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