F. Die Ausführung des Rechtes. I. Die Technik des Rechtes. 55
den Beteiligten zu finden. So steht neben dem geformten das auszu-
wählende Recht.
Diese Gegenüberstellung führt bekanntlich auf Aristoteles zurück. Er hat Gerschtes und
sie im fünften Buche seiner Ethik als dıxawoyvn und Zruelxesa vorgenommen Finde Recht.
und in den Grundzügen scharf bestimmt. In der deutschen Sprache hat man
den Unterschied mit gerecht einerseits und mit geneigt oder billig ander-
seits wiederzugeben versucht, in der Übersetzung Luthers mit gelind. Unsere
neueren Gesetze haben — ebensowenig wie das römische Recht — keinen ein-
heitlichen Ausdruck; sie sprechen von Billigkeit, Treu und Glauben, sittlicher
Pflicht, guten Sitten, wichtigem Grund, Vermeiden des Mißbrauches, ange-
messen, tunlich u.a. m. Alle diese Bezeichnungen dienen aber nur einem und
demselben Gedanken: sie bezeichnen eine rechtliche Regel, die in dieser be-
sonderen Sachlage die Eigenschaft der Richtigkeit besitzt.
Es wird also mit „Treu und Glauben‘‘ oder den „guten Sitten‘ usw. nicht
ein mystisches ‚‚ethisches‘‘ Etwas bezeichnet, von dem niemand genau zu sagen
wüßte, was es eigentlich sei, — auf das der Jurist nur scheu von weitem hinzu-
weisen hätte, ohne ihm klärend zu Leibe zu gehen: vielmehr besagen alle jene
Ausdrücke nichts anderes als Rechtssätze. Sie gehören zu dem Inhalte eines
bestimmten gesetzten Rechtes, sie stellen nur eine besondere Art dar, in
der das letztere sich ausdrückt. Man kann nun davon die auswählende Weise,
die für den später eintretenden Fall dann das Richtige feststellt, wohl unter-
scheiden; sie gehört aber zu der unten zu behandelnden Lehre von der juristi-
schen Praxis.
Das geformte Recht kann in doppelter Weise auftreten:
1. Zwingend. Alsdann kann es weder durch Parteiberedung abgeändert Zwingendes
werden, noch auch duldet es nun eine weitere Erwägung des Gerichtes, ob "ante biges
die technisch geformte Regel im besonderen Falle auch wirklich sachlich ge-
recht sei. So darf bei dem Mietvertrage über eine Wohnung, deren Benutzung
mit einer erheblichen Gefährdung der Gesundheit verbunden ist, der Mieter
unter allen Umständen sofort kündigen; ob in dem besonderen Falle darin nicht
vielleicht ein Mißbrauch gelegen ist, kommt nicht weiter in Frage (BGB. 544).
Bestimmte Verpflichtungen der Eisenbahnen können weder durch die Ver-
kehrsordnung noch durch Verträge ausgeschlossen oder beschränkt werden
(HGB. 471).
2. Nachgiebig. Hier formt der Gesetzgeber für einen vorausgesetzten
Tatbestand eine bestimmte Folge, die voraussichtlich das Richtige treffen wird;
aber will, daß dies demnächst erst noch einmal darauf geprüft werde, ob im
besonderen Falle die festgesetzte Folge auch wirklich grundsätzlich richtig ist.
So sagt BGB. 556, daß der Mieter verpflichtet ist, die gemietete Sache nach der
Beendigung des Mietverhältnisses zurückzugeben; aber es versteht sich diese
Bestimmung nur unter der Maßgabe von BGB. 242, wonach der Schuldner die
Leistung nach Treu und Glauben zu bewirken hat (vgl. auch ZPO. 721). Beim
Annahmeverzug des Käufers kann bei Handelskäufen der Verkäufer einen
Selbsthilfeverkauf vornehmen, den er bei Meidung der Ersatzpflicht vorher