F. Die Ausführung des Rechtes. II. Die Praxis des Rechtes. 59
gewiesenen Geschäfte nicht geeignet, vielmehr mühevoll oder zeitraubend er-
scheinend, — sondern er wird notgedrungen auf die sachliche Bedeutung des
neu auftretenden Rechtes eingehen müssen und alsbald sich mitten in der Er-
wägung befinden: Ist ein bestimmtes geltendes oder vorgeschlagenes Recht
in seinem besonderen Inhalte grundsätzlich richtig?
Die bewußte methodische Befolgung dieser Frage würde zu einer Politik
auf wissenschaftlicher Grundlage führen. Bei ihr kann es sich nicht mehr, Politik auf
wie bei der Rechtsausübung und Rechtsprechung, um den einzelnen Fall als, wissenschaft"
cher Grundlage.
solchen handeln, sondern um seine unvermeidliche Wiederholung in gleichheit-
lichen Massenerscheinungen, die erst zu einer Änderung von bestehendem
Rechte bewegen kann. Darum wäre bei einer Politik des angegebenen Charak-
ters in jedem Falle ihrer Betätigung zu liefern: ı. Darlegung der unvermeid-
lichen Notwendigkeit gewisser sozialer Erscheinungen unter der geltenden,
jetzt kritisch erwogenen Rechtsordnung; Z. Aufweisung der objektiven Un-
begründetheit dieser Art des Zusammenwirkens, gemessen an dem einheit-
lichen grundgesetzlichen Gedanken des sozialen Ideals; 3. Beweis der gegen-
ständlichen Richtigkeit eines widersprechenden sozialen Wollens, nach
dem sich unter gegebenen empirischen Bedingungen eine solche Weise des Zu-
sammenlebens notwendig herausstellen werde, die in ihrer formalen Art den
Grundsätzen des richtigen Rechtes überwiegend entspricht.
Zu einem derartigen Verfahren einer politischen Deduktion besitzen wir
zurzeit noch nicht einmal die ersten Ansätze. Der Berichterstatter über diese
Seite der Kultur der Gegenwart kann nur eine theoretische Möglichkeit
feststellen. Und es ist zuzugeben, daß ein auch nur annähernd exakter Be-
weis für Bestrebungen der praktischen Politik danach fürs erste kaum möglich
erscheint, da der methodisch zu bearbeitende Stoff sich hier nun einmal in un-
kontrollierbaren und schier unübersehbaren Komplikationen verliert. Aber den
unmittelbar praktischen Nutzen könnte man doch schon heute aus dieser kriti-
schen Aufklärung ziehen, daß man vor methodischen Irrtümern bewahrt
bliebe und für den Streit um Beibehaltung oder wünschenswerte Abänderung
des bestehenden Rechtes sich deutlich machte, daß von einem wahrhaft wissen-
schaftlichen Beweisen zurzeit keine Rede ist und Selbstbescheidung hier
am Platze erscheint.
Dagegen ist es angezeigt, hier einer Bewegung zu gedenken, die sich selbst Freirechtliche
die freirechtliche nennt. Bewegung.
Sie gehört der neuesten Zeit an. Man kann als ihren ersten Vertreter den
Gerichtspräsidenten Magnaud bezeichnen, der seit mehreren Jahrzehnten in
Chäteau-Thierry eine sehr freie und persönliche Rechtsprechung ausübt.
Seine Urteile (Sammlung von Leyret) fußen auf dem Gedanken, daß das Ge-
setz in „humanem‘‘ Sinne auszulegen, und auf ‚die menschliche Solidarität‘“
Rücksicht zu nehmen sei. Indem er solches in Strafsachen, wie in Zivilprozessen
ausführt, ist er von manchen Seiten ebenso gelobt und als ‚bon juge‘‘ erhoben,
wie von anderen angegriffen worden. Während er aber jedenfalls in allen Län-
dern französischer Zunge überall bekannt ist und genannt wird, ist er in