74 RUDOLPH SOHM: Bürgerliches Recht.
Vorbehalte (zugunsten der agrarischen Rechtsverhältnisse) gemacht sind, gilt
seitdem in den ‚‚gesamten Erbländern der österreichischen Monarchie“ (in
Cisleithanien) ausschließlich das Privatrecht des Gesetzbuchs: ein Österreich,
ein Recht (in Ungarn hat das Gesetzbuch nur vorübergehend, 1852 bis 1861,
Geltung besessen).
So hat die Kodifikationsbewegung, die um 1700 einsetzte, etwa IOO Jahre
später reiche Frucht getragen: das preußische, das französische, das badische,
das österreichische Gesetzbuch. Als ein Spätling ist dann im Jahre 1863 das
Sächsischs königlich sächsische bürgerliche Gesetzbuch hinzugekommen, gleich-
bürgerliches
Gesetzbuch.
Deutsches
bürgerliches
Gesetzbuch.
falls für sein Gebiet wie das gemeine Recht so auch die Ortsrechte aufhebend.
In dem ganzen deutschen Osten war gegen das Ende des 19. Jahrhunderts
durch das preußische, das sächsische, das österreichische Gesetzbuch die Gel-
tung des Corpus Juris abgeschafft worden; ebenso am linken Rheinufer und
in Baden. Den Abschluß der Entwickelung mußte die Kodifikation des Privat-
rechts durch ein deutsches Gesetzbuch bilden. Dazu bedurfte es der Gründung
des neuen Deutschen Reichs.
IV. Das deutsche bürgerliche Gesetzbuch. Die Kodifikations-
gesetzgebung der einzelnen deutschen Länder war trotz ihrer hervorragenden
Bedeutung dennoch naturgemäß außerstande, die große Aufgabe, um die es
sich handelte, wirklich zu lösen. Der Gegensatz zwischen gemeinem und parti-
kulärem Recht, zugleich zwischen dem rezipierten und dem einheimischen
Recht konnte durch die Landesgesetzgebung nicht überwunden werden. Das
gemeine römische Pandektenrecht blieb trotz alledem in einem großen Teile
Deutschlands in Geltung. Die Kodifikationen bedeuteten bloßes Partikular-
recht. Die Besonderheit der partikularrechtlichen Entwickelung ward lediglich
gesteigert. Und die deutsche Wissenschaft leistete der landesrechtlichen Kodi-
fikation keine Heeresfolge. Der preußische und der sächsische Gesetzgeber
konnte preußisches und sächsisches Recht, nicht aber eine preußische und eine
sächsische Rechtswissenschaft hervorbringen. Es gab nach wie vor nur eine
deutsche Rechtswissenschaft, und diese deutsche Rechtswissenschaft betrach-
tete als ihren vornehmsten Gegenstand nicht das preußische noch das sächsische,
sondern das gemeine deutsche Recht, d. h. das römische Pandektenrecht. Zwar
gab es auch eine Wissenschaft des sog. deutschen Privatrechts, die dem ein-
heimischen deutschen Recht und damit den in den deutschen Partikularrechten
wirksam gebliebenen deutschen Rechtsgedanken diente. Die Wissenschaft vom
deutschen Privatrecht war gewissermaßen die gemeinsame Wissenschaft der
deutschen Pratikularrechte. In dieser Wissenschaft war denn auch vom preußi-
schen Landrecht und vom sächsischen Gesetzbuch, ebenso wie von anderen
Landesgesetzen die Rede. Aber diese Behandlung der Landesrechte war selbst-
verständlich nur eine summarische, die Grundgedanken einigermaßen zusam-
menfassende. Sie gab eine kurze Einleitung in die partikularrechtliche Ent-
wickelung, nicht aber das einzelne Partikularrecht in seinem ganzen inneren
Zusammenhange.