Einleitung. A. Geschichtliches. 75
Die Hauptkraft der deutschen Rechtswissenschaft blieb auf das Pandekten-
recht gerichtet. Auf diesem Gebiete hatte seit Savigny die deutsche Juris-
prudenz des 19. Jahrhunderts ihre größten Erfolge davongetragen. Die deutsche
Pandektenwissenschaft war es, durch welche die deutsche Jurisprudenz Ein-
fluß auf die Rechtswissenschaft aller andern Kulturländer gewonnen hat. In
der Pandektenwissenschaft lag der Schatz, der die geistige Macht deutscher
Rechtswissenschaft und ihre Herrscherstellung begründete. In der Pandekten-
wissenschaft besaß und bearbeitete sie die juristischen Grundbegriffe, welche
die Welt des Privatrechts bewegen. Es war naturgemäß, daß die deutsche
Rechtswissenschaft bei diesem edlen Gegenstande verharrte und sich nicht dazu
herbeiließ, in die Tiefen und Schwierigkeiten der einzelnen Landesrechte hinab-
zusteigen, um dort Begriffen nachzugehen, die doch nur eng begrenzte Geltung
in Anspruch zu nehmen vermochten. Die deutsche Rechtswissenschaft bildete
den deutschen juristischen Geist an den klassischen reinen Formen des römi-
schen Privatrechts.
Die Folge war, daß unsere Wissenschaft dem praktischen Recht sich mehr
und mehr entfremdete. Das praktisch geltende Recht der Landesgesetze fand
nur eine ungenügende wissenschaftliche Behandlung, und das Recht, mit dem
die Wissenschaft sich eingehend beschäftigte (das römische Recht), stand prak-
tisch nur noch in sehr beschränkter Geltung. Der Praktiker ward durch sein
akademisches Studium nur mangelhaft auf das von ihm später anzuwendende
Landesrecht vorbereitet. In der Handhabung dieses seines Landesrechts blieb
er vorwiegend auf sich selber angewiesen. Die deutsche Wissenschaft leistete
ihm wenig Hilfe. Die Folge war selbstverständlich, daß er sich in der Regel um
diese Wissenschaft wenig oder gar nicht kümmerte. Der Praktiker verlor die
Fühlung mit der deutschen Rechtswissenschaft, und die deutsche Rechtswissen-
schaft entbehrte ihrerseits der Befruchtung durch die Praxis. Rechtslehre und
Rechtshandhabung wandten einander den Rücken.
Die landesrechtliche Kodifikation hatte den Partikularismus gesteigert
und die Trennung von Wissenschaft und Praxis herbeigeführt. All diesen
Übelständen konnte nur durch ein deutsches bürgerliches Gesetzbuch, durch
eine einheitliche Neugestaltung des Privatrechts für ganz Deutschland ab-
geholfen werden. Dem deutschen Gesetzbuch mußte die deutsche Wissen-
schaft folgen. Nur durch eine deutsche Kodifikation konnte die Zersplitterung
der bisherigen Rechtsentwickelung, zugleich die Herrschaft des fremden Rechts
und die naturwidrige Scheidung von Wissenschaft und Praxis überwunden
werden.
Entscheidend war natürlich das praktische Bedürfnis. Unsere Zeit steht
„im Zeichen des Verkehrs‘. Immer mächtiger umspannt ein einheitliches
Wirtschaftsleben die ganze Welt. Dem muß die Rechtsentwickelung entsprechen.
Schon taucht in der Ferne der Gedanke eines Weltprivatrechts, zunächst eines
Weltwechselrechts, eines Welthandelsrechts auf. Der Verkehr haßt die Rechts-
verschiedenheit. Zunächst mußte mindestens ein einheitliches nationales
Recht geschaffen werden. Das war es, was bei uns sich durchsetzte, und ebenso