Contents: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Einunddreißigster Jahrgang. 1915. Zweite Hälfte. (56b)

756 Grohbritannien. (April 27.) 
Lord Newton: Auch wenn man alle Möglichkeiten und Uebertreibungen 
berücksichtige, könne man doch nicht länger zweifeln, daß die britischen 
Kriegsgefangenen in Deutschland abscheulich behandelt würden, schlechter 
als Gefangene anderer Nationen. Die schlechte Behandlung habe mit der 
Gefangennahme begonnen und sei schlimmer geworden, als sie nach dem 
Bestimmungsort gebracht wurden. In manchen Fällen sei ihr Leben nahezu 
unerträglich gemacht worden durch kalte, beabsichtigte Grausamkeit, die ab- 
stoßender sei als der Wutausbruch weniger zivilisierter Völker. Die Ge- 
fangenen würden in manchen Lagern nur halb ernährt und halb bekleidet, 
alles das nur, weil sie britischer Nationalität wären. Wenn die britischen 
Offiziere äußerst schlecht behandelt würden, so sei die Behandlung der Sol- 
daten unvergleichlich schlechter. „Wir haben einen äußerst unglücklichen Fall 
von Repressalien vor Augen. Wir gaben den Deutschen einen Vorwand, 
den sie natürlich benutzten. Nach allgemeiner Ansicht waren auf eine mehr 
oder minder selbständige Aktion Churchills hin deutsche Gefangene von den 
Unterseebooten verschieden von den anderen Kriegsgefangenen behandelt 
worden, mit dem Ergebnis, daß Deutschland mit rachsüchtiger Tyrannei 
Vergeltung übte.“ Newton klagt namentlich darüber, daß 39 britische Offi= 
ziere, darunter ein schwerverwundeter Sohn Goschens, für die Vergeltungs- 
maßnahmen ausersehen wurden. Er hoffe auf eine Ankündigung der Re- 
gierung, daß gewisse Offiziere für ihre Taten verantwortlich gemacht werden 
würden. Eine andere Form indirekter Vergeltung käme in Betracht bezüglich 
des deutschen Eigentums. Dies wäre wohl die einzige Drohung, die auf 
Deutschland Eindruck machen könnte. Wenn das geschähe, würde sich wohl 
Deutschlands Haltung gegenüber den Gefangenen sofort ändern. 
Kriegsminister Lord Kitchener sagt bezüglich der englischen Kriegs- 
gefangenen in Deutschland, er müsse, da Berichte aus den verschiedenen 
Quellen darin übereinstimmten, mit großem Widerstreben annehmen, daß 
die Gefangenen hart behandelt würden. Beständig kämen Zeugnisse von 
geslüchteten Gefangenen und aus französischen, belgischen, russischen und 
amerikanischen Quellen. Sie überzengten alle, die die Aussagen prüften, 
daß die Unmenschlichkeit, die die deutschen Behörden, besonders gegenüber 
britischen Gefangenen, an den Tag legten, außer Zweifel stehe. Die Ge- 
fangenen würden nackt ausgezogen und in verschiedener Weise mißhandelt, 
in einigen Fällen kalten Blutes erschossen. Deutschland habe die Artikel 4 
und 7 des Haager Abkommens übertreten. Es sei aber nur recht und billig, 
wenn er betone, daß sich gegen die deutschen Lazarette keine solchen An- 
schuldigungen erheben ließen. Die Behandlung der Leute in den Gefangenen- 
lagern sei je nach den Orten sehr verschieden. Vielfach litten die Leute Mangel 
an Nahrung. Engländer würden anders behandelt als Franzosen und Russen. 
In letzter Zeit scheine allerdings unter dem Einfluß der Besichtigungen 
durch den amerikanischen Botschafter eine Besserung eingetreten zu sein. 
Was die deutschen Vergeltungsmaßregeln an britischen Offizieren betreffe, 
so sei nach der Haager Konvention eine derartige Gefangensetzung nur dann 
zulässig, wenn sie aus Gründen der Sicherheit unbedingt notwendig sei. 
Deutschland habe seit vielen Jahren vor der zivilisierten Welt als große 
militärische Nation gegolten und militärische Tüchtigkeit und Mut reichlich 
bewiesen. Es sollte auch einen Standard der militärischen Ehre aufstellen, 
der ihm, wenn auch nicht die Freundschaft, so doch die Achtung der Nationen 
erringen würde. Statt dessen habe es sich zu Handlungen erniedrigt, die 
auf immer seine Geschichte beflecken würden und die mit der barbarischen 
Wildheit der Derwische wetteiferten. Er glaube nicht, daß es Soldaten 
irgendwelcher Nation, auch unter der deutschen, gebe, die sich nicht herzlich 
des Makels schämten, der über den militärischen Beruf gebracht worden
	        
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