Botschafter in Paris (1874 bis 1885) 195
ist, wie Orlow sagt, sehr unzufrieden, daß Orlow, wie er es tut, den
gegenwärtigen Zustand in Frankreich für eine vorübergehende Komödie
und das Kaiserreich für die eigentliche Zukunft Frankreichs hält.
Daß Gambetta und Chaudordy immer noch zusammenhalten, ist mir
von Orlow bestätigt worden. Gambetta will, daß Chaudordy an Leflös
Stelle als Botschafter nach Petersburg gehe. Dieses Zusammenhalten,
das auf ihre gemeinschaftliche Tätigkeit in Tours zurückzuführen ist, ist
eigentümlich. Sollte Gambetta den Plan haben, mit Hilfe der Ultra-
montanen, denn das ist Chaudordy, und mit Rußland, wenn er dereinst
zur Regierung kommt, die Revanche gegen Deutschland zu ermöglichen?
Paris, 28. Juni 1876.
Bei einer Unterredung mit Decazes sagte mir dieser, der türkische
Botschafter glaube nicht, daß die Serben wirklich den Krieg anfangen
würden. Das serbische Volk wolle ihn nicht. Ich teile diese optimistische
Auffassung nicht. Wenn General Tschernajew 1) nicht dort wäre, dann
eher. Gontaut hat an Decazes berichtet, daß der Kaiser Wilhelm über
die serbischen Nachrichten beunruhigt sei. Er habe gesagt: „Si on massacre
les chrétiens, PEurope ne peut pas assister sans rien faire.“ Mir
scheint, daß man das Gesindel dort sich selbst überlassen sollte, nachdem
man den richtigen Zeitpunkt der Intervention versäumt hat.
Paris, 1. Juli 1876.
Nachmittags bei der Fürstin Lise, wo ich Marcere traf, den die
Fürstin bat, das Munizipalgesetz zurückzuziehen, ) was er lächelnd ab-
lehnte. Madame Daelman, die ich dann besuchte und die von Petersburg
kommt, sagt, daß dort alles zum Krieg bereit sei.
16. Juli.
Ich werde von einem Gedanken verfolgt, der mich nicht losläßt. Es
ist folgender: Sollte nicht der Unglaube unfrer Zeit daraus entstanden sein,
daß sich die Philosophen in der Aufstellung des Gottesbegriffs ebenso
1) Der russische General Tschernajew kommandierte die serbische Hauptarmee.
Am 3. Juli erklärte Serbien der Türkei den Krieg.
2) Der am 29. Mai den Kammern vorgelegte Entwurf eines Gemeindegesetzes
gab die Wahl der Maires allen Gemeinden zurück, mit Ausnahme der Hauptorte
der Kantone, Kreise und Departements. Am 12. Juli wurde das Gesetz von der
Deputiertenkammer angenommen. Die am 25. Juli bestellte Kommission des Senats
hatte fünf reaktionäre gegen vier liberale Mitglieder. Am 11. August verwarf der
Senat den von der Deputiertenkammer beschlossenen Artikel 3 des Gesetzes, nach
welchem die Neuwahlen der Gemeinderäte in ganz Frankreich binnen drei Monaten
stattfinden sollten.