204 Botschafter in Paris (1874 bis 1885)
In der konservativen Fraktion habe ich mich für Geschworene bei
Preßvergehen ausgesprochen. Es war nötig.')
Heute Audienz bei dem Kaiser. Er erzählte, daß man in Petersburg
noch große Schwierigkeiten voraussehe. Mit England ist man dort zu-
frieden. Dem Lord Loftus sagte der Kaiser Alexander::) „Avant tout
imprimez-vous trois points:
. Le testament de Pierre le Grand n'existe pas.
2. Je ne ferai jamais des conqustes aux Indes.
3. Je w’irai jamais à Constantinople.“
Diese Aeußerung hat in England sehr guten Eindruck gemacht.
Trotzdem ist Kaiser Wilhelm beunruhigt, weil er sagt, daß Gortschakow
die Eventualität, die Forderungen Rußlands mit Gewalt durchzusetzen,
noch vor Augen habe. Die russische Armee sei nicht besonders, immer
aber besser als die türkische, die in vier Monaten nur sechs Meilen weit
vorgedrungen sei.
Denselben Tag war ich zum Diner geladen. Es waren da Prinz
August von Württemberg, Lichnowski, Stillfried, Dechend u. a. Mich
interessierte, den General Werder von Petersburg kennen zu lernen. Der
Kaiser, neben dem ich saß, war sehr heiter. Als die Gesellschaft aus-
einanderging, gab mir der Kaiser die Hand und sagte: „Reisen Sie
glücklich, und machen Sie es so gut wie bisher.“
Paris, 12. November 1876.
Heute Visitentournee bei den Botschaftern. Cialdini kennen gelernt,
der mir besser gefällt als der süßliche Nigra. Man kann doch mit ihm
reden. Dann zu Molins, wo ich nur die Marquise traf. Der Nunzius
war besonders mitteilend und eingehend. Er erkundigte sich vorzugsweise
nach den Vermögensverhältnissen der Familie Wittgenstein.
Decazes empfing mich mit offenen Armen. Ueber die orientalische
Frage sagte er: „Mon cher Prince, il faut nous serrer les coudes.
Wir müssen zusammenhalten, um den Frieden bei den Konferenzen zu
bewahren. Chaudordys) wurde von ihm gerühmt. Wird wohl suchen,
sich uns angenehm zu machen. Bourgoing sei naiv. Er nehme die Reform-
1) Dem Reichstage waren am 1. November die Berichte seiner Justizkommission
über die Reichsjustizentwürfe vorgelegt worden.
2) In Livadia, wo der Kaiser Alexander vom 2. Oktober bis 5. November ver-
weilte. Er empfing dort den deutschen Botschafter in Wien, General von Schweinitz,
und den englischen Botschafter in Petersburg, Lord Loftus.
3) Graf Chaudordy war am 10. November zum außerordentlichen Bevoll-
mächtigten neben dem Botschafter Bourgoing zur Vertretung Frankreichs bei der
Konferenz der Botschafter in Konstantinopel ernannt worden.