234 Botschafter in Paris (1874 bis 1885)
Berlin, 15. Juni 1878.
Nach verschiedenen Besuchen und einem Diner mit Holstein, Radowitz,
Bucher u. s. w. im Tiergartenhotel fuhr ich gestern Abend 9 Uhr zum
Kronprinzen. Wir sprachen über die Kongreßeröffnung und über die
Aussichten des Kongresses. Ich hob hervor, daß eine der Gefahren darin
zu liegen scheine, daß England zu viel fordere und Rußland schließlich
den Krieg wählen würde. Im allgemeinen fand ich den Kronprinzen durch
die Arbeit und die Teilnahme an den Geschäften erfrischt.
Dann bei Bismarck. Der Reichskanzler gab seiner Mißstimmung
über die türkischen Bevollmächtigten Ausdruck und erzählte, daß er ihnen
offen gesagt habe, die Türkei irre sich, wenn sie glaube, daß ihr ein Vorteil
daraus erwachse, wenn der Kongreß ohne Resultat verlaufe. Ein Krieg
werde nur dazu führen, daß sich die Mächte nach dessen Beendigung
auf Kosten der Türkei verständigen würden. Als nachher davon die Rede
war, daß Bismarcks großer Hund einen Minister angeknurrt habe, sagte
der Kanzler: „Der Hund ist in seiner Dressur nicht fertig. Er weiß nicht,
wen er beißen soll. Wenn er es wüßte, würde er die Türken gebissen
haben." Daß man Mehemed Ali geschickt hat, hält der Kanzler für eine
Taktlosigkeit. Bei der Besprechung der Frage, ob Karatheodory Christ
sei, meinte er: „Am Ende ist der Magdeburger (Mehemed Ali) der einzige
Muselmann unter den dreien.“
Daß die englischen Minister sich gelegentlich des Todes des Königs
von Hannover!) in die Frage mischen, welchen Titel der Kronprinz führen
solle, ärgert den Reichskanzler, der überhaupt Mißtrauen gegen die Eng-
länder hegt und sie für unverschämt und ungeschickt erklärt. Er sagte
dann die bedeutungsvollen Worte: „Ich möchte wissen, ob Beaconsfield
den Krieg will!“ Jedenfalls, meinte er, werde die etwas kriegerische
Haltung der Engländer den Oesterreichern den Vorteil gewähren, sich mit
den Russen zu verständigen. Um 12 Uhr ging alles auseinander. Der
Reichskanzler begleitete mich ins andre Zimmer und sprach da noch von der
Schwierigkeit, die es ihm bereitet habe, französisch zu präsidieren. Er hat
es übrigens sehr gut gemacht, und von der Befangenheit, die er gehabt zu
haben behauptet, hatte man nichts bemerkt.
Nachmittags.
Ich habe anderthalb Stunden bei Bleichröder gesessen und seine
talmudische Weisheit angehört. In der auswärtigen Politik ist er nicht
beruhigt. Er meint, der Reichskanzler habe recht gehabt, als er ihm
sagte, der Friede stehe 66 gegen 34, vielleicht 70 gegen 30. Die Rumänen
machen ihm Sorge, was ich nicht begreife. Von London hat er einen
1) König Georg von Hannover war am 12. Juni gestorben.