Im Reichstage (1870 bis 1874) 29
München, 30. November 1870.
Gelzer 1) erzählte mir, daß er auf seiner Reise hierher auch Bischof
Hefele in Rottenburg besucht habe. Derselbe habe ihm den Eindruck eines
Mannes gemacht, der eine Wunde in der Brust habe. Er sei ins-
besondere sehr gebeugt durch den schmählichen Abfall der deutschen Bischöfe.
Nachdem diese sich in Rom vor der Abreise das Wort gegeben hatten,
nichts beschließen zu wollen bezüglich des Infallibilitätsdogmas, ohne sich
vorher zu beraten, hätten sie sich trotzdem einzeln unterworfen. Melchers
habe sogar geradezu abgeleugnet, daß eine solche Verabredung statt-
gefunden hätte.
Es scheint, daß Ketteler ein durchaus falsches Spiel gespielt hat.
Wenn man die sittliche Verkommenheit, den vollständigen Mangel ehren-
hafter Gesinnung bei den Bischöfen betrachtet, so schaudert man über den
Einfluß, den das jesuitische Element in der katholischen Kirche auf die
menschliche Natur ausübt.
Hier sind alle Theologen abgefallen. Nur Döllinger, Friedrich und
Silbernagl halten fest. Huber glaubt, daß nur Döllinger allein aus-
harren werde.
Die Gemeinde Mering 2) wird vielleicht Anlaß zu einer weitergehenden
Bewegung im niederen Klerus geben. Man ist hier sehr gespannt auf
den Ausgang.
2. Dezember.
Nach den neuesten Nachrichten und insbesondere infolge eines Tele-
gramms von Viktor, welches mir sagt, daß die Annahme des Vertrags mit
Bayern zweifelhaft und meine Ankunft nützlich sei, reise ich heute Nach-
mittag nach Berlin. Ich warte nur darauf, daß Barth zu mir kommt,
um mir seine Erfahrungen in Berlin mitzuteilen. Er ist ohne Zweifel
gestern Abend von Berlin zurückgekommen. Ueber den Vertrag von
Versailles 3) sind die Ansichten im Publikum noch unklar. Die Fortschritts-
partei findet ihn schlecht, die Ultramontanen arbeiten auch dagegen. Wenn
man aber die Folgen der Nichtannahme bedenkt, so müssen alle Bedenken
gegen die Annahme schwinden. Wenn er verworfen würde, so hätten nur
die Ultramontanen den Vorteil davon. Der angebliche Umschwung in der
Stimmung im Lande ist zweifelhaft. Sehen die Ultramontanen, daß sie
ihn zu Fall bringen können, so werden sie es tun. Fällt der Vertrag
1) Staatsrat Gelzer (siehe Bd. I S. 210) verweilte damals im Auftrage des
Großherzogs von Baden in München, um für den Kaisertitel zu wirken.
2) Der Pfarrer Renftle in Mering bei Augsburg hatte mit Zustimmung seiner
Gemeinde gegen die Infallibilität protestiert.
3) Geschlossen am 23. November.