32 Im Reichstage (1870 bis 1874)
In einer Privatunterhaltung erzählte mir Münster von seinem Auf-
enthalt in England. Er hat dort mit vielen Staatsmännern gesprochen
und sagt, man freue sich in England allgemein über die Niederlage der
Franzosen. Der „Standard“, welcher gegen Preußen schreibt, sei von dem
Herzog von Cambridge und dessen konservativen Freunden gekauft.
Die englischen Staatsmänner raten, vor allem eine Monarchie her-
zustellen und die republikanische Form des Präsidenten des Bundes zu
beseitigen.
Perglas sah ich einen Augenblick. Er ist sehr verstört, beklagt sich
wie gewöhnlich, daß man ihn nicht au courant der Schwenkung gesetzt
habe, die das Ministerium in München gemacht. Er zweifelt nicht an
der Annahme durch den Reichstag und meinte, das Mißvergnügen der
Nationalliberalen sei nur Komödie.
Von Versailles hörte ich durch Pleß und Frankenberg, daß man noch
kein Ende absehe. Die Krankheiten in der Belagerungsarmee nehmen zu.
Man streitet sich im Hauptquartier, ob man bombardieren solle oder nicht.
Vorläufig ist aber die Munition noch nicht vollständig.
5. Dezember.
Heute um ½ 12 Uhr bei der Königin im „Morgenanzuge“. Sie sprach
sehr bedauernd über die lange Dauer des Kriegs. Dann über die katho-
lische Frage. Der Abfall der deutschen Bischöfe und das ganze Treiben
infolge der römischen Intrige scheint sie sehr in ihrer guten Meinung vom
Katholizismus irre gemacht zu haben. Ich erzählte ihr von Hefele und
dann von der Meringer Angelegenheit.
Dann im Reichstag, wo Schulze-Delitzsch gegen den Vertrag sprach.
Delbrücks Verlesung des Briefs des Königs von Bayern machte großen
Eindruck, trotzdem man die Behandlung dieser großen folgenreichen Tatsache
kleinlich fand. ) Windthorsts Rede war, wie es schien, darauf berechnet,
seine Münchner Freunde gegen den Vertrag aufzuhetzen. Lasker ant-
wortete ihm sehr treffend. Seine Kritik des bayrischen Vertrags war
richtig. Zum Diner bei der Königin, wo auch Lutz war.
Abends im Woltersdorfschen Theater, wo „Wir Barbaren“ gegeben
wurde. Ein rechtes Zeitstück. Die Bayern spielen da keine besonders
glänzende Rolle. Ueberhaupt ist die Art, wie sich Bayern in den Bund
hineinzwängen läßt, hier der Gegenstand des Spottes. Hätte man das,
was man doch tun mußte, mit Eklat und früher getan, so würde uns das
die Achtung der Welt eingetragen haben, während man uns jetzt auslacht.
1) Der Abgeordnete Friedenthal brachte im Einverständnis mit der Regierung
die Frage des Kaisertitels zur Sprache, worauf Delbrück den Brief des Königs
von Bayern verlas.