Straßburg (1885 bis 1894) 437
Von da ging ich zu Bleichröder, der mir zuerst von den russischen
Geschäften sprach und behauptete, der russische Finanzminister sei geneigt,
sich mit der deutschen Regierung zu verständigen, und werde dafür sorgen,
daß der Ukas vom März 1881 außer Anwendung gesetzt werde.
Auf die Politik übergehend, sagte Bleichröder, er verstehe die Wilhelm-
straße nicht mehr. Er sehe nicht ein, warum man Frankreich bedrohe,
da man dort sehr bereit sei, mit uns in Frieden zu bleiben. Ebenso sehe
er keinen Grund, Rußland zu bedrohen. Glücklicherweise habe Bismarck
im letzten Augenblick die Zollerhöhung auf Getreide inhibiert. Durch das
ewige Hetzen werde der Rubelkurs heruntergedrückt und dadurch Rußland
in die Lage versetzt, seine Produkte mit Vorteil nach Deutschland zu
schicken. Stiege der Kurs des Rubels, so würde Rußland keinen Vorteil
haben, den Export nach Deutschland fortzusetzen. Bleichröder behauptet,
Bismarck lasse dem Sohne zu viel freie Hand. Er sei zu reich geworden.
Dazu komme, daß Bismarck um jeden Preis auch unter der Regierung
des jetzigen Kronprinzen im Amte bleiben wolle. Er habe vor einigen
Monaten dem Kronprinzen erklärt, er werde auch ihm seine Dienste
widmen, werde aber nicht bleiben, wenn der Kronprinz den Krieg wolle.
Jetzt, meint Bleichröder, werde er auch um den Preis des Kriegs bleiben.
Die jetzigen Hetzereien seien eine Konzession an den künftigen Kaiser und
dessen militärische Ratgeber.
Bei Wilmowsski, den ich nachher besuchte, fand ich dieselben Besorg-
nisse und dieselbe Mißstimmung über Herbert Bismarck, den auch dieser
für ein Unglück für das Reich ansieht. Der Kronprinz stehe unter dem
Einfluß von Waldersee und Herbert Bismarck. Beide arbeiten auf den
Krieg, während Wilmowski der Ansicht ist, daß man keinen Krieg führen
dürfe nur deshalb, weil wir besser gerüstet seien als die Gegner. Unter
solchen Umständen werde der Enthusiasmus der Nation für den Krieg
fehlen, und das sei sehr bedenklich.
Die Zustände hier mißfallen mir ganz außerordentlich. Es ist schade,
daß ich jetzt nicht abgehen konnte, um diesem Treiben entschieden entgegen-
zutreten.
Die Fürstin Bismarck ist bedenklich erkrankt. Der Fürst kommt
morgen zurück.
Berlin, 30. Mai 1888.
Ich ging Nachmittags ins Auswärtige Amt, wo ich aber nur
Lindau fand. Um 6 Uhr aß ich beim Reichskanzler, der sehr liebens-
würdig war. Nach Tisch wurde noch vom Paßzwang gesprochen, und
der Fürst fand, daß die Bitte der Orientexpreßgesellschaft genehmigt werden
könnte. Ich werde also eine zustimmende Erklärung erhalten. Ich tele-
graphierte deshalb an Studt, daß er die Revision während der Fahrt