464 Straßburg (1885 bis 1894)
Berlin, 24. März 1890.
Gestern war wieder ein mühsamer Tag. Morgens 11 Uhr mit
Amelie) in das Schloß, da Viktor unwohl war und nicht zum Ordens-
fest gehen konnte. Der Gottesdienst in der Schloßkapelle war wie immer
sehr feierlich, die Rede Kögels sehr kurz. Um 1½ Uhr Diner, wo ich
zwischen Stosch und Kameke saß. Ersterer erzählte mir viel von seinem
Zerwürfnis mit Bismarck und war froh wie ein Schneekönig, daß er jetzt
offen reden konnte und daß der große Mann nicht mehr zu fürchten ist.
Dies behagliche Gefühl ist hier vorherrschend. Es ist auch hier wieder
wahr, daß nur die Sanftmütigen das Erdreich besitzen. Wenn nur in
der auswärtigen Politik jetzt vorsichtig auf Bismarcks Wegen weiter ge-
gangen wird!
Beim Cercle drückte mir der Kaiser die Hand, daß mir die Finger
krachten, auch trank er mir bei Tisch zu, wo ich mich dann ehrfurchtsvoll
verneigte und aus Ehrfurcht beinahe den Champagner verschüttet hätte.
Bei dem Cercle fragte ich jemand, wo Huene2) sei, den ich sehen wollte.
Da mischte sich ein Herr in gestickter Uniform, den ich nicht kannte, in
die Konversation und zeigte dienstfertig, wo Huene stand. Ich konnte mich
nicht enthalten zu sagen, daß es keineswegs Wohlwollen sei, was mich zu
dieser Neugierde getrieben habe; worauf mich der gestickte Mann vor-
wurfsvoll anblickte und verschwand. Nachher wurde ich von der Kaiserin
Friedrich empfangen, die mit der Art, in der Bismarck entlassen worden
ist, nicht einverstanden schien. Sie meinte, ich hätte sein Nachfolger
werden sollen. Als ich ihr aber sagte, ich sei im gleichen Jahr wie ihre
Mutter und ihr Vater geboren, gab sie zu, daß es etwas spät sei, ein
solches Werk aufzunehmen. In den Fragen der Sozialpolitik ist sie meiner
Ansicht und sagt, daß Kaiser Friedrich die Bismarcksche Gesetzgebung stets
bekämpft habe. Die Großherzogin von Baden, zu der ich dann fuhr,
war wie immer sehr freundlich, klagte über ihre Augen und daß sie des-
halb neulich Marie nicht gesehen habe, und dann wünschte sie mir Glück,
daß ich nun in Elsaß-Lothringen freier schalten und walten könne.
Abends im Theater, wo „Das vierte Gebot“ von Anzengruber
gegeben wurde. Ein etwas planloses Rührstück mit Mord und Totschlag,
das aber ganz vortrefflich gegeben wurde.
Münster hätte man wohl zum Minister der auswärtigen Angelegen-
heiten gemacht, aber er kommt den Leuten zu alt und taperig vor. Ich
plädiere für Hatzfeld. Von Radowitz ist nicht die Rede, und sonst ist
in der Diplomatie niemand.
1) Herzogin von Ratibor.
Der Zentrumsabgeordnete, der anfangs März zum päpstlichen Geheim-
kämmerer ernannt war.