42 Im Reichstage (1870 bis 1874)
beide Fraktionen werden wesentlichen Aenderungen entgegengehen. Was
aber meinen Beitritt zu einer zu bildenden neuen Fraktion auf der von
Ihnen angegebenen Grundlage betrifft, so bitte ich, mir zu erlauben, mir
die Sache erst in der Nähe genau ansehen zu dürfen. Ich weiß nämlich
nicht, ob eine genauere Durchberatung der einzelnen Punkte des aufzustellen-
den Programms zur Ueberzeugung führen wird, daß unfre Ansichten ge-
nügend übereinstimmen, um ein ersprießliches Zusammenwirken in einer
Fraktion hoffen zu lassen. Sie dürfen nicht vergessen, daß es bei uns in
Süddeutschland eine konservative Partei im Sinne der norddeutschen Kon-
servativen nicht gibt. Bei uns ist schon im sozialen Leben der Adel,
wenn ich so sagen soll, etwas demokratisiert. Aristokratische Bestrebungen
ohne religiöse Färbung existieren hier nur in der Theorie, und wer ernst-
haft Politik treibt, dem bleibt nur die Wahl, sich einer der beiden großen
Parteien anzuschließen, welche bei uns um Herrschaft und Einfluß ringen,
deren eine von Rom abhängt und entschieden theokratische Tendenzen ver-
folgt, und deren andre, auf dem praktischen Boden der Verfassung stehend,
den modernen Rechtsstaat zu verwirklichen strebt. An diese beiden Par-
teien schließen sich je nach der Situation die sozialdemokratische und die
konservativ-liberale Partei an. So kam es zum Beispiel, daß, während
es in andern deutschen Staaten, wie in Baden, eine konservativ-nationale
Partei gab, davon hier nicht die Spur zu finden ist. Wer also von
politisch tätigen Männern nach Berlin kommt, der gehört bereits einer
der beiden Parteien, wenn auch nicht durch Siegel und Unterschrift, doch
durch seine politische Vergangenheit an und ist deshalb in seinen Be-
wegungen nicht vollkommen frei.
Was nun speziell die flüchtig berührten Punkte Ihres Programms
betrifft, so darf ich dieselben wohl mit den Worten zusammenfassen:
Aufbau des deutschen Staates, Reichsministerium und Oberhaus, nicht
Staatenhaus.
Hier gestehe ich zunächst, daß mir der deutsche Staat noch zu fern
zu liegen scheint, um ihn zum Gegenstand eines Programms zu machen.
Ich halte mich an das, was vorliegt, und das ist die Föderation des
Deutschen Reichs. Ein Verlassen dieser Grundlage dürfte bedenklich sein.
Wir können hier einen gewissen Grad von Partikularselbständigkeit nicht
aufgeben. Ehe ich mich aber für das verantwortliche Reichs= oder Bundes-
ministerium ausspreche, möchte ich das Räderwerk des Reichs erst in Be-
wegung sehen. Das Oberhaus, wie Sie es denken, scheint mir den
Einheitsstaat als gegeben oder in nächster Nähe bevorstehend voraus-
zusetzen. Allein ich habe dagegen noch andre Bedenken. In der Theorie
halte ich die aristokratische Republik, wie sie sich in England aus dem
Feudalstaat entwickelt hat, für eine sehr beneidenswerte Staatsform. Es